Frankfurt: „Oedipus Rex“, Igor Strawinski / „Iolanta“, Peter I. Tschaikowski

Doppelabend

Bericht von der Premiere am 28. Oktober 2018

Verweigerte Archaik und vergiftetes Märchen

Zwei Kurzopern russischer Komponisten, die beide um das Thema der Blindheit kreisen: Was könnte näher liegen, als diese beiden Stücke zu einem Abend zu verbinden? Und doch sind in dieser Neuproduktion zwei völlig unterschiedliche Werke zu erleben, die mehr als nur eine Umbaupause trennt. Die Regisseurin Lydia Steier liefert zwei eigenständige Inszenierungen mit je eigenem, profiliertem Bühnenbild ab. Es gibt keinerlei szenische Querbezüge. Jeder Teil könnte auch ohne den anderen bestehen. Selbst die Abfolge erscheint beliebig. Im Jahresprogramm und den Vorankündigungen stand Tschaikowskis Iolanta immer an erster Stelle, Strawinskis Oedipus Rex an zweiter. Plötzlich aber ist es am Premierenabend umgekehrt. Nun steht das spätromantische Märchenstück um eine blinde Prinzessin, die auf wundersame Weise geheilt wird, im Mittelpunkt. Strawinskis kantig-neoklassizistisches Opernoratorium mit seiner stilisierten Archaik gerät zum Vorprogramm. Fast hat man seine Wucht am Ende schon wieder vergessen. Und das ist schade, denn das Produktionsteam macht gerade hier vieles richtig.

Das Bühnenbild von Barbara Ehnes zitiert in Oedipus Rex detailgetreu den Plenarsaal des Deutschen Reichstags vor der Zerstörung durch den Brand 1933. Die Szene wird also vom antiken Griechenland in die Entstehungszeit des Stückes, die 1920er Jahre versetzt. König Oedipus ist ein Politiker in Zeiten des aufkommenden Faschismus. In den Bänken der Reichstagsabgeordneten haben neben den Honoratioren bedrohlich viele Offiziere und einfache Soldaten Platz genommen.

Peter Marsh (Oedipus; auf dem Tisch stehend) und Ensemble

Zur Einordnung der in lateinischer Sprache deklamierten Tragödie hatte der Librettist Jean Cocteau erläuternde Texte in der jeweiligen Landessprache vorgesehen, mit denen ein Sprecher das Publikum durch die archaische Handlung führt. Diese Texte werden in Frankfurt von flüsternden Kinderstimmen gesprochen, die mit stereophonen Raumeffekten über Lautsprecher eingespielt werden. Diese Idee ist nicht ganz neu (Barrie Kosky hatte das hier schon in Herzog Blaubarts Burg erfolgreich vorgeführt), aber unverändert wirkungsvoll. Zum Standard gehören mittlerweile auch Videoeinblendungen, die hier zu den Zwischentexten plastisch die Vorgeschichte vom Mord an König Laios und den unerkannten Inzest des Oedipus mit seiner Mutter und Ehefrau Iokaste illustrieren. Regisseurin Lydia Steier mag es deutlich, überdeutlich mitunter. Und sie versteht sich auf flüssige Personenregie. Damit unterläuft sie aber die in Text und Musik angelegte oratorienhafte Statik und das Blockhafte der Tableaus. Letztlich hebt sie die durch Verwendung der lateinischen Sprache und von archaischen Formen beabsichtigte Verfremdung und Distanz auf und präsentiert ein saftiges Stück handwerklich sauber gearbeitetes, aber weitgehend überraschungsfreies Regietheater, als wär’s eine herkömmliche Oper.

Peter Marsh hat sich der Herausforderung angenommen, die Titelpartie zu gestalten. Sein heller, das Kopfregister bevorzugender Tenor entspricht dem Stimmtyp großer Rollenvorgänger wie Peter Pears und Peter Schreier. In den ersten Takten seines Auftritts versucht er noch, die Selbstbehauptung des Politikers mit Volumen zu illustrieren. Dabei setzt er seine Stimmbänder derart unter Druck, daß sie ein für ihn ungewöhnlich expansives Vibrato erzeugen. Das legt sich aber sehr schnell, und der Sänger formt vokal und mimisch ein differenziertes Porträt dieses Verblendeten, der allmählich die schreckliche Wahrheit erkennt, um sich dann selbst durch Ausstechen der Augen tatsächlich physisch zu blenden.

Tanja Ariane Baumgartner (Iokaste; im roten Kleid), Peter Marsh (Oedipus; rechts) und Gary Griffiths (Kreon; dahinter) sowie Ensemble

Den vokalen Glanzpunkt dieses ersten Teils setzt jedoch Tanja Ariane Baumgartner als Iokaste. Ihr reifer Mezzosopran verbreitet zunächst orientalisch-exotisches Flair, durchmißt exaltierte Höhen und raunende Tiefen und vermag es mit spöttischer Verachtung, sich über mißliebige Weissagungen lustig zu machen. Eindruck macht der Auftritt von Andreas Bauer, der dem blinden Seher Teiresias mit seinem volltönenden Baß große Autorität verleiht. Hörenswert sind auch Matthew Swensen mit hellem, jugendlichem Tenor als Hirte und der markante Baßbariton von Brandon Cedel als Bote.

Der von Tilmann Michael vorbereitete Männerchor ist stark gefordert und bewältigt seine Einsätze mit fülligem Klang und präziser Diktion. Generalmusikdirektor Sebastian Weigle präsentiert den Neoklassizismus der Partitur farbig, aber unsentimental, klar ausgeleuchtet, aber nicht trocken, und erzeugt mitunter einen unwiderstehlichen rhythmischen Drive.

Als der Vorhang fällt, gibt sich das Publikum von der archaischen Wucht der Musik und dem drastisch ausgestellten Schicksal der Hauptfiguren erschlagen (aus Oedipus‘ leeren Augenhöhlen rinnt das Blut, vom ersten Stock baumelt die Leiche der erhängten Iokaste) und verharrt einige Sekunden in Stille, spendet dann aber anerkennenden Beifall für alle Beteiligten.

Heiteren und spontanen Applaus erhält dann nach der Pause direkt nach dem Heben des Vorhangs das Bühnenbild der zweiten Oper. In einem bis zur Decke aufragenden Regal sind unzählige, rosafarben gekleidete, blonde Puppen aufgereiht. Als lebensgroße Puppe sitzt darunter die Protagonistin, ebenfalls rosa gekleidet und mit blonder Perücke ausgestattet. Mit diesem bonbonfarbenen Alptraum hat das Produktionsteam die zuvor von Strawinski ordentlich durchgeschüttelten Premierengäste offenbar für sich eingenommen.

Und nun verschiebt sich die Aufmerksamkeit ganz auf die vokalen Leistungen. Das Publikum hängt den Sängern förmlich an den Lippen und spendiert immer wieder Zwischenapplaus. Schon mit ihren ersten Tönen zeigt Asmik Grigorian in der Titelrolle der Iolanta, warum sie aktuell zu den begehrtesten Sopranistinnen weltweit gehört. Ihre reiche, dabei jugendlich frische Stimme ergießt sich in vollen Strömen in den Zuschauerraum. Momente der Trauer teilen sich unmittelbar mit, in Momenten der Leidenschaft entwickelt sie atemberaubende Glut. Man badet im Strom dieser Stimme. Daß sie die übrige Besetzung nicht völlig an die Wand singt, zeugt von deren bemerkenswerter Qualität. So präsentiert sich AJ Glueckert als ihr Tenorpartner in der Rolle des Graf Vaudémont mit strahlenden Höhen und tadellosem Stimmsitz. Das Frankfurter Ensemblemitglied liefert dabei keinen glatten Schöngesang, sondern nutzt seinen charakteristisch timbrierten Tenor, bei dem eine lyrische Grundierung mit einer Prise Spinto-Fähigkeit gewürzt ist, zur Rollenprofilierung. Klanggesättigt, aber in der Höhenlage erstaunlich elegant weiß Robert Pomakov als Iolantas Vater König René für sich einzunehmen. Lediglich bei den tiefsten Tönen macht sich das Fehlen der nötigen Baßschwärze bemerkbar. Immerhin hebt er sich so von Andreas Bauers dunklerer Stimme ab, mit der er im zweiten Teil nun in der Rolle des arabischen Arztes Ibn-Hakia wiederum überzeugt. Auch versteht man jetzt, warum die Oper Frankfurt Gary Griffiths als Gast engagiert hat. Blieb er im ersten Teil als Kreon noch unscheinbar und blaß, ist er im zweiten Teil als Robert stimmlich kaum wiederzuerkennen. Nun ist ein kerniger Bariton zu hören, der sich gut in das übrige Ensemble einfügt.

Asmik Grigorian (Iolanta)

Das Orchester zeigt seine Wandelbarkeit und läßt zu Beginn einen delikaten, duftigen Holzbläserklang aus dem Orchestergraben entschweben, der vom Einsatz der Streicher wunderbar abgerundet wird. Sebastian Weigle achtet darauf, der bei Tschaikowski immer vorhandenen Kitschgefahr zu entgehen. Zudem erweist er sich einmal mehr als aufmerksamer Begleiter, der seine Sänger nie in Klangwogen untergehen läßt.

Man ist von all der musikalischen Pracht und dem hübsch-skurrilen Bühnenbild derart abgelenkt, daß man beinahe übersehen hätte, wie die Regisseurin das Gift des Kindesmißbrauchs in die Märchenidylle einträufelt. Neben der Blindheit hat sie nämlich ein zweites inhaltliches Band zwischen den disparaten Teilen dieses Doppelabends gespannt: den Inzest. Bei Oedipus liegt der Inzest als Thema offen zu Tage. Bei Iolanta ist er eine Zutat des Produktionsteams. Im Libretto isoliert der König seine blinde Tochter und läßt sie im Unklaren darüber, daß ihr ein Sinnesorgan fehlt. Erst durch den Eindringling Vaudemónt erfährt sie von ihrem Defizit und überwindet es wunderbarer Weise durch Liebe. Die Regisseurin deutet die Blindheit aber psychologisch als hysterische Folge eines Mißbrauchs durch den Vater. Schließlich unterläuft Steier auch das vorgesehene Happy End, indem Iolanta zu den Klängen des Jubelfinales ihren sie liebenden Retter von sich stößt und sich dem Vater zuwendet, der gerade dabei ist, sich wegen der Schande des aufgedeckten Inzest eine Pistole an den Kopf zu setzen. Wir halten das für reichlich konstruiert. Das Publikum hat es aber nicht gestört. Es jubelt am Ende den Sängern zu, feiert insbesondere Asmik Grigorian enthusiastisch und verschont das Produktionsteam mit Unmutsbekundungen.

Michael Demel, 30. Oktober 2018

Bilder (c) Barbara Aumüller