Bericht von der Premiere am 1. Dezember 2019
Ritualisierte Vereinsamung
Gabriel Fauré selbst war mit dem Ergebnis seiner späten Gehversuche auf dem Gebiet der Oper nicht zufrieden: „Der Eindruck am Klavier wirkt jedoch eiskalt, insgesamt erscheint das Ganze steif und statisch.“ Diese Selbstkritik ist berechtigt. Die Musik folgt wie das Libretto einer Antikenrezeption, die im 19. Jahrhundert vorherrschend war. Alles ist edel, ebenmäßig, aber auch von marmorner Blässe – und verfehlt das Wesen der bewunderten Mittelmeerkulturen aus einer fernen Vergangenheit. Daß etwa die als klassisch überhöhten antiken Statuen ursprünglich farbig bemalt waren, ja auf heutige Betrachter regelrecht grell bunt wirken, war noch weitgehend unbekannt. Wer Homers Illias und Odyssee unbefangen liest, wer sich überhaupt mit griechischer Mythologie beschäftigt, dem kann kaum das Archaische, Brutale, ja grotesk Grausame entgehen. Da ist Richard Strauss‘ saftige Vertonung von Hugo von Hofmannsthals bluttriefendem Gewaltexzeß der Psychopathin Elektra aus dem Jahr 1909 tatsächlich wesentlich dichter am Kern, als die in edler Pose erstarrende Pénélope des französischen Komponistenkollegen, die im Jahre 1913 uraufgeführt wurde.
In edler Pose erstarrt: Paula Murrihy als Pénélope
Faurés Librettist René Fauchois hat mit sicherer Hand wesentliche Elemente eliminiert, welche die von ihm verwendeten Abschnitte der Odyssee farbig und interessant machen. Daß er etwa die Figur des Telemachos, des Odysseus Sohn, der dem Vater bei der Racheaktion an den Freiern seiner Ehefrau zur Hand geht, völlig eliminiert hat, wirkt wie eine Amputation der Handlung. Das für antike Dramen konstitutive Element einer in die Geschicke der Menschen eingreifenden und mit diesen verwobenen Götterwelt fehlt ebenfalls völlig. Nicht die Göttin Athene läßt Odysseus hier in fremder Gestalt erscheinen. Die Verfremdung muß ein angeklebter Bart leisten, was bereits Fauré eher unglaubwürdig fand, ohne daraus dramaturgische Konsequenzen zu ziehen (die Frankfurter Inszenierung läßt den falschen Bart gleich ganz weg). Auch die Weise, wie das finale Blutbad an den Besiegten eher beiläufig in das Ende verharmlosend hineinmontiert wird, erscheint wie ein kraftloses Abhaken eines Handlungselements, welches blutig die edle Würde der Protagonisten eintrübt. Wie aus dem Rahmen gefallen wirkt es da, wenn der Librettist die vor sich hinbrütende Pénélope dann doch einmal für einen kurzen Moment Gewaltphantasien entwickeln läßt: Sie wolle „Blut und Gedärme“ der sie belagernden Prinzen an den Wänden der Palastmauern sehen. Das glaubt ihr aber zu diesem Zeitpunkt bereits niemand mehr im Publikum. Und auch Fauré glaubt es ihr nicht, wie die Musik bezeugt. Er webt in seiner Partitur edle Fäden, malt lichte Aquarellbilder, dünnt die Instrumentation immer wieder aus und kombiniert einzelne Instrumente zu exquisiten Klangfarbmischungen. Vorzüglich wird das vom Orchester unter der Leitung von Joana Mallwitz präsentiert. An den Musikern liegt es nicht, daß man keine Melodie, keine musikalische Wendung mit in die Pause nimmt. Wenn man noch im Ohr hat, wie überwältigend farbig Joana Mallwitz Debussys Pelléas mit dem Frankfurter Opernorchester vor einigen Spielzeiten aus dem Orchestergraben fluten ließ, dann erkennt man deutlich, daß Fauré sich bewußt gegen den Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus abgrenzen wollte. Hier gibt es kein geheimnisvoll raunendes Ungefähr, kein Schillern, kein Fluten. Alles ist klares, wohltemperiertes Edelmaß. Man hört dem durchaus interessiert zu und fühlt sich intelligent unterhalten. Emotional läßt einen diese Musik allerdings so kalt wie der Torso einer Marmorstatue.
Was Sie nicht sehen: Hier hat gerade ein Massaker stattgefunden (Božidar Smiljanić (Eumée), Paula Murrihy (Pénélope) und Eric Laporte (Ulysse)
Die Inszenierung von Corinna Tetzel versucht erst gar nicht, dem Stück äußere Dramatik abzugewinnen. Gezeigt wird eine selbstbewußte Frau, die ihre Vereinsamung ritualisiert hat. Die Trauer um den vermeintlich vor Troja gefallenen Odysseus ist zu einem Kokon geworden, in den sie sich eingesponnen hat. Bildlich zeigt das die Regie treffend, indem sie Pénélope das Totenhemd ihres verstorbenen Schwiegervaters Laertes, dessen allnächtlich vereitelte Fertigstellung den Zeitpunkt einer neuen Eheschließung hinauszögern soll, selbst tragen läßt. Die Perpetuierung der unbewältigten Vergangenheit hüllt die Königin ein und schirmt sie von der Umwelt ab. Ihre ritualisierte Trauer ist ein Vehikel, das zur Emanzipation durch Absonderung geführt hat. Da ist es konsequent, daß diese selbstbewußt Vereinsamte den nach zwanzig Jahren Irrfahrt überraschend heimkehrenden Gatten zunächst nicht erkennt, wohl auch: nicht erkennen will. Als er sich ihr offenbart, bleibt sie distanziert. Er ist ihr fremd geworden, aber er hat auch in ihrem neuen Leben keinen rechten Platz mehr. Das Schlußbild zeigt sie in sich versunken, während der wiedererlangte Gatte sich ratlos von ihr entfernt.
Paula Murrihy (Pénélope; im Anzug vorne sitzend) und Freier
Paula Murrihy gibt der Titelfigur mit edelherb timbriertem Mezzo angemessen noble Kontur. Sie verkörpert auch glaubhaft das introvertierte Wesen dieser Figur, für das Camille Saint-Saëns seinen Freund und Schüler Fauré nach der Uraufführung getadelt hatte: „Ich sehe nicht ein, warum Pénélope unter dem Vorwand, daß sie ihren Mann vermißt, immer wie eine Schlafwandelnde herumläuft.“ Der heimkehrende Odysseus, der in latinisierter Tradition hier Ulysse heißt, ist mit Eric Laporte typgerecht besetzt. Sein gut fokussierter Tenor verfügt über einen stabilen Kern, der den Kriegshelden beglaubigt. Zugleich prädestiniert ihn eine elegante voix mixte für das französische Repertoire. Auch optisch paßt er gut zur Rolle eines etwas in die Jahre gekommenen, vom Bestehen zahlreicher Abenteuer etwas erschöpften Helden, der ein wenig Zeit benötigt, um seine wiederkehrenden Kräfte zu sammeln und mit einem finalen Kraftakt die tradierte Ordnung in seinem Königreich wieder herzustellen.
Der Gatte bleibt ihr fremd: Joanna Motulewicz (Amme), Paula Murrihy (Pénélope) und Eric Laporte (Ulysse)
Äußerlich gar nicht typgerecht ist Joanna Motulewicz. Die junge Sängerin muß die Amme des Odysseus spielen, wird aber als die junge Frau präsentiert, die sie tatsächlich ist. Man mag von Maskierungen und Theaterschminktricks halten, was man mag: Wenn die Amme etwa halb so alt aussieht wie der erwachsen gewordene einstige Säugling, wenn sie also gut und gerne seine Tochter sein könnte, dann kippt die Dramaturgie in diesem Punkt. Das ist umso störender, als die Motulewicz musikalisch mit ihrem dunkel abgetönten, sich warm verströmenden Alt musikalisch einen ausgezeichneten Eindruck hinterläßt. Ohnehin sind nicht nur die Hauptpartien überzeugend besetzt. In gewohnter Güte profitiert auch die kleinste Nebenrolle von den Qualitäten des Frankfurter Stammensembles. Aus dem Kreis der Prinzen verstehen es Sebastian Geyer und Peter Marsh, die von Fauré einkomponierten Profilierungsmöglichkeiten zu nutzen. Božidar Smiljanić empfiehlt sich mit seinem satten, kernigen Baßbariton als Hirte einmal mehr für größere Aufgaben.
Unter dem Strich ist man geneigt, dem Stück allenfalls eine Zukunft mit gelegentlichen konzertanten Aufführungen vorauszusagen. Rifail Ajdarpasic ist für das Bühnenbild der vorliegenden Produktion jedenfalls nichts eingefallen, was den szenischen Aufwand gerechtfertigt hätte. Er hat den Hof von Ithaka auf das Flachdach eines Wohnhauses mit angerosteter Satellitenschüssel und trostlosen Stuhlskeletten versetzt, welches über teilweise ausgebleichte Terracotta-Fliesen und im Hintergrund herumstehende Zypressen als mediterran gekennzeichnet wird. Die Kostüme von Raphaela Rose zeigen durchweg die üblichen Business-Anzüge, die offenbar irgendeine EU-Richtlinie für Aktualisierungen historischer Stoffe zwingend vorschreibt (anders ist deren inflationäre Verwendung auf deutschen Bühnen nicht zu erklären).
Musikalisch lohnt sich ein Besuch der Produktion, auch wenn die vorzüglichen Sänger und das großartige Orchester nicht vergessen machen können, warum Faurés Spätwerk nie Eingang in das Repertoire gefunden hat.
15.12.2019, Michael Demel
© der Bilder: Barbara Aumüller