Frankfurt: „Tamerlano“, Georg Friedrich Händel

Premiere am 7. November 2019

American Horror Story

Wenn Wochen vor der Premiere schon sämtliche Vorstellungen der kommenden Aufführungsserie restlos ausverkauft sind, dann gibt das Publikum dem Opernhaus eine Carte blanche. So geschieht es seit einigen Spielzeiten regelmäßig, wenn die Oper Frankfurt für das Bockenheimer Depot eine neue Händel-Inszenierung ankündigt. So war es auch jetzt vor der Premiere von Tamerlano. Die Erwartung, wieder etwas Besonderes, Außergewöhnliches zu erleben, wurde nicht enttäuscht. Der zum ersten Mal in Europa inszenierende US-amerikanische Regisseur R. B. Schlather hat sich von seinem Bühnenbildner Paul Steinberg einen nüchternen Raumkomplex in das ehemalige Straßenbahndepot hineinbauen lassen, welcher mit schmucklosen weißen Wänden an ein funktionales Bürogebäude oder an eine sterile Fertigungshalle erinnert. Die Trennung von Bühne und Zuschauerraum ist vollständig aufgehoben. Das gesamte Theatergebäude vom Eingang über das Foyer bis zur eigentlichen Spielstätte wird als Einheit präsentiert. Das Personal von den Kartenkontrolleuren über die Garderobieren bis zu den Mitarbeitern hinter dem Getränkeausschank trägt einheitliche blaue Arbeitskittel mit der Aufschrift „Crew“, so wie das neue Ensemblemitglied Liviu Holender, der mit vollmundigem Bariton als Tamerlanos Handlanger Leone auftritt. Nüchternes, kaltes Licht von Neonröhren beleuchtet unterschiedslos die aufsteigenden Zuschauerränge wie die Spielfläche. So dauert es am Anfang etwas, bis sich die typische Theateratmosphäre einstellt. Im ungedimmten Licht fühlt sich das Publikum beobachtet, ist es selbst Teil der Inszenierung. Die beginnt damit, daß ein als Cowboy verkleideter Mann mittleren Alters einen großen Metallkäfig aufschließt, den im Gänsemarsch die Mitglieder des Orchesters betreten, um darin schließlich eingesperrt zu werden.

Der Cowboy, der mit schlecht sitzender Perücke, aufgeklebtem Schnauzbart, aufgesteckter Nase und häßlicher Brille aussieht wie Groucho Marx, der sich in den Wilden Westen verirrt hat, entpuppt sich als Titelheld. Im ersten Akt gibt er sich als schräger Spaßvogel, knallt zu einer Arie kräftig mit einer Peitsche und verteilt Dosenbier an das Publikum. Die Käfighaltung der Orchestermusiker und das Verschnüren von Gefangenen mit Klebeband erscheinen zunächst als spleenige Scherze. Mehr und mehr kippen die Späße ins Gewalttätige, entledigt sich der Spaßmacher seiner Maskierung, nimmt Perücke, Bart und falsche Nase ab, um in neuer Maske zu erscheinen, dem Batman-Schurken Joker ähnlich geschminkt und damit zur Kenntlichkeit entstellt. Kein Zweifel: wir befinden uns in den Händen eines gefährlichen Irren.

Der Regisseur spielt das Libretto als American Horror Story durch. Die eigentliche Handlung geht so: Der Tatarenfürst Tamerlano hält den von ihm besiegten Osmanenherrscher Bajazet und dessen Tochter Asteria gefangen, die er begehrt, obwohl er der Prinzessin Irene versprochen ist. Sein Verbündeter Andronico soll für ihn um Asterias Hand werben, ist aber selbst in diese verliebt. Asteria, die Andronicos Liebe erwidert, geht zum Schein auf das Werben Tamerlanos ein, nutzt aber die so erreichte Nähe zum Herrscher, um auf diesen einen Giftanschlag zu verüben. Der Anschlag scheitert. Tamerlano schwört Rache, der gedemütigte Bajazet kommt ihm mit seinem Selbstmord zuvor, was wiederum Tamerlano versöhnt.

Es ist ein typisches Barock-Libretto mit verwickelten Liebeshändeln und unglaubwürdigem Lieto fine. Das funktioniert im fiktiven Mittelalter des Originals so gut und schlecht wie in den USA der Gegenwart. Die Methode des Regisseurs ist dabei nicht eine bloße zeitliche Transformation, sondern ein experimentelles Durchspielen der Affekte einer Barockoper vor der Folie heutiger Popularkultur. Die nüchternen Kulissen lassen den Ort des Geschehens unbestimmt. Davor treten die Protagonisten in Kostümen auf, die wie Erinnerungsfetzen aus filmischen Vorbildern wirken. Neben dem Titel-Anti-Helden als Groucho-Marx-Cowboy und Joker sieht man Andronico im dritten Akt in American-Football-Montur, muß Bajazet einen orangefarbenen Dreß tragen (Guantanamo läßt grüßen), hantiert Tamerlano mit einem Baseballschläger herum wie Robert de Niro als Al Capone.

Die Nähe zum Publikum hat den Vorzug, daß man die emotionale Anverwandlung der Figuren durch ihre Darsteller unmittelbar erleben kann. So ist bei Elisabeth Reiter als Asteria echte Zornesröte auf den Wangen zu sehen, blitzt bei Lawrence Zazzo als Tamerlano immer wieder ein erschreckend glaubhafter Wahnsinn in den Gesichtszügen auf. Die Regie entwickelt einen immer stärker werdenden Sog, dem sich das Publikum kaum entziehen kann. Anfangs noch reagiert es amüsiert auf die schrägen Scherze der Titelfigur, dann aber verfolgt es den immer alptraumhafter werdenden Plot mit steigender Gespanntheit, um am Ende schließlich beklommen und mit angehaltenem Atem dem langen Schlußgesang des sterbenden Bajazet zu lauschen.

Diese berührende Abschiedsszene gestaltet der Tenor Yves Saelens mit einer Intensität, die vergessen läßt, daß er in den zwei Akten zuvor zwar als ausdrucksstarker Darsteller szenisch, musikalisch aber lediglich in den Rezitativen überzeugen konnte. In seinen Bravourarien mogelt er sich durch bestenfalls angedeutete Koloraturen und präsentiert einen Stil, den man als Barockversion des berüchtigten „Bayreuth barking“ bezeichnen kann: überbetont artikulierte Konsonanten und aus der Grunddynamik herausfallende Akzente zerreißen allzu oft die Gesangslinie.

Lawrence Zazzo zeigt mit seinem gereiften Countertenor dagegen, daß prägnante Rollenprofilierung nicht zu Lasten einer technisch adäquaten Gesangsleistung gehen muß. Der junge Countertenor Brennan Hall kann sich in der Rolle des Andronico mit sanfterer Färbung gut davon absetzen. Cecelia Hall überzeugt mit ihrem frischen Mezzosopran als Irene. Die phänomenale Elisabeth Reiter aber übertrifft sie alle. Mit der Asteria präsentiert sie sich auf dem Gipfel ihrer Möglichkeiten durch eine staunenswerte Fülle an Klangabstufungen. Mit makelloser Technik präsentiert sie die Koloraturen, schleudert zornige Tonkaskaden gegen ihren Peiniger, erzeugt aber zugleich in ruhigeren Passagen eine ans Herz rührende Innigkeit. Jede Emotion wird musikalisch beglaubigt, jede Phrase mit Ausdruck erfüllt.

Karsten Januschke kann am Pult des Orchesters im Metallkäfig auf die sich von Produktion zu Produktion steigernde Barockkompetenz seiner Musiker bauen. Die historisch informierte Aufführungspraxis haben sie mit einer derartigen Selbstverständlichkeit verinnerlicht, daß der junge Dirigent sich ungewöhnliche Akzentsetzungen, kontrastreiche Dynamikabstufungen und einen sehr flexiblen Umgang mit der Tempogestaltung leisten kann. Das Orchester ist zugleich Impulsgeber wie Echokammer für die von den Sängern durchlebten Affekte.

So fügt sich eine faszinierend unkonventionelle Inszenierung zu einer selbstbewußten musikalischen Gestaltung.

Eine kleine kritische Frage muß sich die Intendanz aber stellen lassen: War nicht abzusehen gewesen, daß die Aufführungsdauer dreieinhalb Stunden erreichen würde, und war es daher nicht ungeschickt, den Vorstellungsbeginn auf 19.30 Uhr festzusetzen, mit dem Ergebnis, daß ein zwar begeistertes, aber erschöpftes Publikum erst weit nach 23 Uhr den Nachhauseweg antreten kann? Es hätte der Konzentration der Zuschauer gutgetan, wenn diese das intensive, dynamisch und agogisch zurückgenommene Ende etwas früher und damit wacher hätten erleben können.

Noch drei Aufführungen sieht der Spielplan vor. Eine Wiederaufnahme ist nicht vorgesehen. Wer nicht auf Restkarten an der Abendkasse spekulieren will, mag sich mit der zweiten Wiederaufnahmeserie von Händels Radamisto am Großen Haus zum Jahreswechsel trösten. Diese ebenfalls sehr gelungene Inszenierung wartet mit ausnahmslos großartigen Gesangsleistungen auf. Karten gibt es dafür noch reichlich.

Michael Demel, 15. November 2019

© der Bilder: Monika Ritterhaus