Premiere am 3. April 2016
Ein barockes Stimmfest
Die Oper Frankfurt führt ihre unerklärten Händel-Festspiele nach einer Wiederaufnahme des „Giulio Cesare“ mit Counter-Star Andreas Scholl und einem heftig akklamierten szenischen „Messiah“ nun mit einer Neuproduktion des „Radamisto“ im Bockenheimer Depot zu einem triumphalen Abschluß. Händel hatte die Oper als Einstandswerk für die „Royal Academy of Music“ komponiert – eine Aktiengesellschaft. Man wollte mit großen Stimmen Geld verdienen. Und so ätzte eine zeitgenössische Musikzeitschrift: „Während der Probe am vergangenen Freitag gelang es dem Soprankastraten, einen halben Ton höher zu singen als bisher – die Aktien stiegen von 83 ½, als er begann, auf 90, als er aufhörte.“
An der Oper Frankfurt steigen die Opernaktien in der Premiere von Händels Meisterwerk bereits mit dem ersten Ton. Er stammt von Paula Murrihy in der Rolle der von ihrem Gatten verschmähten Polissena. Schon dieser erste Ton ist ein Muster an Gestaltungskunst. Ernst, würdevoll und schmerzhaft zugleich ist in diesem Ton bereits die gesamte Figur enthalten. Der bittersüße Schmelz, den man schon in Murrihys „Dido“ vor einigen Spielzeiten bewundern konnte, ist erneut zu hören. Die Stimme ist seitdem farbiger geworden, aber auch voluminöser. Ihre charakteristischen vibratolosen Tonansätze werden sparsamer und gezielter dosiert, reihen sich ein in eine Fülle präzise den jeweiligen Stimmungen angepaßten Valeurs.
Eine weitere Steigerung erlebt der Aktienkurs mit dem Einsatz von Vince Yi als Fraarte. Man reibt sich die Augen und kann es kaum glauben, daß diese glockenreinen Soprantöne von einem Mann produziert werden. Fasziniert lauscht man den makellosen Koloraturen. Eine solche Mühelosigkeit und Natürlichkeit hat man bei Counter-Stimmen nicht für möglich gehalten.
Artifizieller und dadurch in einem reizvollen Kontrast dazu steht das Timbre von Dmitry Egorov in der Titelpartie. Der Aktienkurs hält seinen hohen Stand, wenn Egorov mit charakteristischem Falsett-Mezzo den oft zaudernden Königssohn zeichnet. Die Stimme tönt angenehm füllig und wird immer wieder mit einem geschmackvollen Vibrato angereichert. Im weiteren Verlauf offenbart der Sänger, daß auch seine Baritonlage ansprechend klingt, wenn er mit verstellter Stimme in der Verkleidung des Dieners Ismeno auftritt.
Zu einem weiteren Höhenflug setzt die Händel-Aktie mit dem Einsatz von Kihwan Sim an, der den Tyrannen Tiridate als Bilderbuch-Schurken gibt: böse, zynisch, roh und brutal. All das wird mit den stimmlichen Mitteln eines Prachtbaritons gezeichnet, der Kraft und Volumen mit schwarzer Tiefe, mühelos ansprechender Höhe und dabei wie selbstverständlich wirkender Geläufigkeit vereint. Nach seinem fabelhaften „Oberto“ zeigt das Ensemblemitglied erneut seine herausragenden Qualitäten.
Gaëlle Arquez gibt die Zenobia, treue Gattin des Radamisto und Objekt der Begierde des Tiridate, mit genau der Verve und der lodernden Glut, die in den beiden vergangenen Spielzeiten bereits ihre umjubelten Auftritte als Medea in Händels „Teseo“ und Nerone in Monteverdis „Incoronazione di Poppea“ ausgezeichnet haben.
Dieses herausragende Spitzenquintett wird ohne Niveauverlust von zwei Sängern ergänzt, die derzeit noch dem Frankfurter Opernstudio angehören, aber eindrücklich unter Beweis stellen, daß es eine Untertreibung wäre, lediglich von „Hoffnungen“ für das jeweilige Stimmfach zu sprechen: Danae Kontora, die mit quirligem Sopran in der Hosenrolle des Tigrane reüssiert, und Thomas Faulkner, der Radamistos Vater Farasmane mit seinem kultivierten Bariton Würde verleiht.
Kurz: Es ist ein Sängerfest zu erleben. Das musikalische Niveau könnte kaum höher sein. Und doch ist all die staunenswerte und wie selbstverständlich präsentierte Vokalakrobatik kein Selbstzweck. Jede Partie ist mit einer genau den Charakter treffenden Stimme besetzt, alle musikalisch souverän beherrschten Mittel münden in eine klangbildnerische Darstellungskunst, die im Spiel der jungen Sänger ihre Entsprechung findet.
Eingangsbild mit dem kompletten Sängerensemble
Das Einheitsbühnenbild besteht aus einer aufsteigenden Holztreppe mit steilen Stufen (Bühnenbild von Karoly Risz). Das muß genügen. Hier zeigt sich die hohe Kunst der Personenführung durch Regisseur Tilmann Köhler. Präzise und mit unaufdringlicher Selbstverständlichkeit wird die Treppe ohne sonstige Kulissenelemente und mit einem Minimum an Requisiten bespielt. Durch die darstellerische Hingabe der Protagonisten gelingt so ein Kammerspiel, das in drei Stunden Dauer nie an Spannung verliert und nirgends durchhängt. Unterstützt wird das durch eine ausgefeilte Lichtregie (Joachim Klein), die auf der kahlen Bühne Räume abzirkelt, mit Farb- und Helligkeitsnuancen die dominierende Treppe vielgestaltig erscheinen läßt und effektvolle Schattenwirkungen erzeugen kann.
Ein auf dem Papier gewohnt barock-verwirrendes Libretto wird mit größtmöglicher Plastizität durch das Herauspräparieren der Personenbeziehungen verständlich gemacht: Königssohn Radamisto ist mit Zenobia glücklich verheiratet, die aber von Tiridate, Herrscher des Nachbarreiches, begehrt wird, der wiederum mit Radamistos Schwester Polissena verehelicht ist. Tiridate zettelt einen Krieg an, um Zenobia zu gewinnen, verwüstet das Herrschaftsgebiet des Radamisto, nimmt dessen Vater Farasmane gefangen, kann auch Zenobia schließlich in seine Gewalt bringen, wird aber zu guter Letzt durch die Treue Polissenas geläutert.
Gaëlle Arquez und Dimitri Egorov
Die privaten Gelüste des Tyrannen bringen Tod und Verwüstung und machen seine Opfer zu heimatlosen Flüchtlingen. Aktuelle Bezüge zu den Bürgerkriegen im Nahen Osten drängen sich auf. So, wie schon im Libretto das Beziehungsgeflecht der Protagonisten vor dem Hintergrund kriegerischer Staatsaktionen ausgebreitet wird, wird die auf individuelle Charakterisierung abzielende Inszenierung von aktuellen Videobildern mit Truppenaufmärschen, zerbombten Städten und Flüchtlingslagern überblendet (Videos von Bibi Abel). Durch Projektion auf die Holztreppe wirken diese Bilder lamellenartig gebrochen und verfremdet. Sie bieten keinen platten Kulissenersatz, sondern dosiert eingesetzte Kommentare. An einer Stelle wird die Überblendung sogar als Mittel von Ironie eingesetzt. Im zweiten Teil verschwören sich Tigrane und Fraarte gegen den Tyrannen Tiridate und rüsten zu dessen blutigem Sturz. Da beide Rollen aber Sopranstimmen anvertraut sind, klingt das geradezu putzig. Diesen Kontrast von niedlicher Hülle und brutalem Inhalt nimmt die dazu verwendete Videoeinblendung auf, die einen Manga-Comic zeigt, in dem ein blutiges Gemetzel von den typischen kindlichen Figuren mit unschuldig-großen Kulleraugen angerichtet wird.
Vince Yi (Fraarte) und Danae Kontora (Tigrane)
So sehr der Regisseur sich klug mit „Einfällen“ zurückhält, so dankbar ist man ihm für den Kontrapunkt, den er zum wie immer haarsträubenden Lieto fine setzt. Nachdem sich Tiridate drei Stunden lang als Tyrann aus dem Musterbuch des machiavellistischen Herrschaftszynismus erwiesen hat, soll er von jetzt auf gleich geläutert sein und unziemlichem sexuellem Begehren wie Machtgier entsagen? Das glaubt kein Mensch. Und so arbeitet sich Tiridate beim laut Libretto optimistischen Finale von hinten nach vorne kehlenschlitzend durch das auf der Treppe versammelte Bühnenpersonal, so daß der jubelnde Schlußchor von Ermordeten geträllert werden muß. Eine boshafte, aber treffende Pointe, die den unglaubwürdigen Schluß durch schwarzen Humor genießbar macht.
Für einen erstklassigen Barocksound auf der Höhe historisch informierter Aufführungspraxis sorgt das Orchester unter der unaufdringlichen Leitung von Simone Di Felice. Die Streicher rekrutieren sich aus der Stammbesetzung. Wie schon im „Giulio Cesare“ und im „Messiah“ bestätigen sie ihre stilistische Vielseitigkeit mit vibratoarmem Spiel und plastisch-beredter Artikulation. Der Klang ist dabei keineswegs anämisch, sondern voll und farbig, aber klar und gut durchhörbar. Adäquat ergänzt wird der Streicherklang von bewährten Spezialisten an barocken Blasinstrumenten mit ihren charakteristischen Klangfarben. Besonders erwähnt werden müssen die schlicht-ergreifende Solo-Oboe, die fabelhaften Naturtrompeten und die beiden Virtuosen an den Naturhörnern.
Paula Murrihy, Kiwan Sim, Gaëlle Arquez, Dimitri Egorov und Thomas Faulkner
Zu berichten ist also von einem restlosen Gelingen in allen Bereichen der Produktion, von überzeugenden Einzelleistungen, die sich zu einem stimmigen Ganzen fügen. Dieses Gelingen ist indes mehr als der Zufall einer glücklichen Fügung. Der Erfolg beruht vielmehr auf dem gezielten Einsatz sorgsam und über Jahre entwickelter Stärken der Frankfurter Oper. Mit Paula Murrihy und Kiwan Sim sind zwei der herausragenden Sänger des Ensembles eingesetzt, die beide dem Opernstudio entstammen und von Intendant Loebe mit sorgsam ausgewählten Einsätzen über Jahre behutsam aufgebaut wurden. Dmitry Egorov konnte sich schon in mehreren Nebenrolleneinsätzen als Gast am Opernhaus bewähren und wird nun völlig zurecht endlich in einer Hauptrolle präsentiert. Gaëlle Arquez begeistert in schöner Regelmäßigkeit einmal pro Jahr in einer Barockproduktion. Konzertmeister Ingo de Haas hat es sich nicht nehmen lassen, das klein besetzte Orchester anzuführen. Simone Di Felice, Solorepetitor des Opernhauses, ist inzwischen in barocker Aufführungspraxis derart sattelfest, daß man auf einen der Stars der Alten-Musik-Szene am Pult ohne Qualitätseinbußen verzichten kann. Die Jugend und Frische von Ensemble und Produktionsteam lenken davon ab, daß dessen Zusammenstellung Ergebnis eines mehrjährigen Reifeprozesses ist. Nicht immer geht die „Methode Loebe“ derart beglückend auf.
Kein Liebhaber barocker Stimmfeste sollte sich diese Produktion entgehen lassen. Karten für die Folgevorstellungen gibt es nur noch vereinzelt. Man kann sein Glück aber an der Abendkasse versuchen. Der Einsatz lohnt sich.
Michael Demel, 5. April 2016
Bilder: Barbara Aumüller