Frankfurt: „Rodelinda, Regina De‘ Longobardi“, Georg Friedrich Händel

Bericht von der Premiere am 12. Mai 2019

Von Monstern und Menschen

Die meisten großen Künstler haben einen unverwechselbaren Stil. Man hört wenige Takte und weiß: das ist Mozart, man sieht ein Porträt und weiß: das ist Picasso. Und wenn man es banal formulieren möchte, dann ist der Kern eines Stils die Wiederholung von Formen, Motiven und Techniken. So ist es auch möglich, daß andere „im Stile von“ komponieren oder malen. Die in einem bestimmten Stil gehaltenen Werke haben dadurch im Hinblick auf Grundparameter immer auch ein Moment von Vorhersagbarkeit. Wenn man nun also auf dem Besetzungszettel liest, daß zur von der Oper Frankfurt koproduzierten Rodelinda Claus Guth die Inszenierung besorgt und Christian Schmidt Bühnenbild samt Kostümen entworfen hat, dann lassen sich sichere Vorhersagen treffen: Im Bühnenbild wird eine Treppe einen zentralen Raum einnehmen, der Baustil wird klassizistisch anmuten, die beherrschenden Grundfarben werden weiß oder Pastelltöne sein. Außerdem wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens eine stumme Rolle geben, die dem Geschehen ein zweite Erzählebene oder einen doppelten Boden verleiht. Womöglich werden auch einzelne Figuren vervielfacht werden. So ist es nun in der aktuellen Neuproduktion gekommen. Und trotzdem ist, was große Künstler eben auszeichnet, ein Unikat zu bestaunen. Die bewährten Stilelemente werden reflektiert und punktgenau dem neuen Stoff angepaßt, variiert, erweitert. Es gibt Wiedererkennungseffekte, aber auch Überraschungen. Tatsächlich ist nämlich die Anwendung des bewährten Handwerkszeugs keineswegs im Detail vorhersagbar.

Es gibt also wieder ein Schmidt-typisches Herrenhaus mit zwei Geschossen, welches an drei Seiten aufgeschnitten ist, wodurch sich eine Vielzahl von Zimmern bespielen läßt. Und selbstverständlich gibt es eine auslandende Treppe, die vom Erdgeschoß in das obere Stockwerk führt. Dieses Mal läßt sich das Haus einmal um die eigene Achse drehen. So ergeben sich immer wieder neue Raumeindrücke. Ganz nebenbei ist das Drehen auch ein beliebtes und wirksames Mittel, den Eindruck von Statik zu vermeiden.

Daß zumindest die Außenfassade den „Georgianischen Baustil“ des 18. Jahrhunderts zitiert, erfährt man aus dem Programmheft. Einige Kritikerkollegen haben das naseweis abgeschrieben und ihren Lesern ohne Quellenangabe unter Vortäuschung eigener Kennerschaft präsentiert. Daß der Bühnenbildner sein Stilvorbild in einem Interview mit dem Frankfurter Hausdramaturgen überhaupt erwähnt, zeigt aber, wie genau und reflektiert er vorgeht. Es ist dabei gar nicht entscheidend, ob diese bauhistorische Einordnung erkennbar ist. Es teilt sich dem Opernbesucher nämlich stets unbewußt mit, wenn selbst in Details keine Willkür waltet.

Die Guth-typische stumme Figur mußte der Regisseur dieses Mal nicht hinzuerfinden. Im Libretto ist von ihr immer wieder die Rede: Es ist Flavio, der halbwüchsige Sohn des Herrscherpaares Bertarido und Rodelinda. Dieses Kind mußte erleben, wie sein Vater in einem Streit um die langobardische Königsherrschaft den eigenen Bruder tötete, floh, dabei Frau und Kind zurückließ, wo sie nun einem Usurpator, Herzog Grimoaldo, ausgesetzt sind, der den Thron an sich gerissen hat und Rodelinda Avancen macht. Bertarido läßt sich für tot erklären, kehrt jedoch heimlich zurück, um Frau und Sohn zu retten, wird entdeckt, eingekerkert und erneut fälschlich für tot erklärt. Der Regisseur stellt sich nun die Frage, was diese aufwühlenden Ereignisse wohl in einer Kinderseele bewirken. Und so erleben wir als zentrale Figur den kleinen Flavio, stumm und verängstigt, wie er seine Erlebnisse in Kinderzeichnungen zu Papier kritzelt. Seine wilden Skizzen werden auf das Mauerwerk projiziert. So zeigt sich, daß er alle Erwachsenen um ihn herum als Monster sieht, übergroß und bedrohlich, mit zu Fratzen verzerrten Gesichtern. Schlimmer noch: Diese Monster nehmen Gestalt an und spuken durch das Haus. Natürlich kann nur er sie wahrnehmen.

Flavio bewegt sich in dieser Welt der Erwachsenen, deren Handeln er nicht versteht, und der Monster, die ihn bedrohen, wie in einer alptraumhaften Choreographie. Diese Choreographie ist derart ausgefeilt und nuanciert, daß ein Kind als Darsteller damit überfordert wäre. Claus Guth hat mit dem kleinwüchsigen Schauspieler Fabián Augusto Gómez Bohórquez den idealen Darsteller dafür gefunden. Äußerlich erscheint er als Kind, zumal aus der Entfernung eines Zuschauerraumes, verfügt aber über das mimische Repertoire und die Souveränität eines Erwachsenen. Tatsächlich ist die Inszenierung derart stark auf ihn fokussiert, daß die singenden Protagonisten gelegentlich zu szenischen Randerscheinungen werden. Dabei führt der Regisseur sein Personal in bewährter Weise lebendig und glaubwürdig durch das verwickelte Bühnengeschehen.

Die Titelfigur wird von Lucy Crowe gesungen, welche die Partie bereits aus der Aufführungsserie dieser Produktion am Teatro Real Madrid kennt. Zu erleben ist ein tadellos durchgeformter lyrischer Sopran mit souveräner Koloratursicherheit. Ihre Rollengestaltung ist reflektiert und differenziert. Sie verfügt über ein breites Spektrum an Klangfarben, mit dem sie Trauer und Verzweiflung ebenso musikalisch beglaubigen kann wie Zorn und Entschlossenheit.

Lucy Crowe (Rodelinda)

Ihren totgeglaubten Gatten Bertarido gibt der arrivierte Countertenor Andreas Scholl. Seiner sehr weichen, sanften Stimme kommt es entgegen, daß Händel die Figur musikalisch als Anti-Helden gezeichnet hat, der sich mit einer getragenen und melancholischen Arie einführt. Weniger überzeugen kann Scholl in Momenten, in denen er Aufgewühltheit oder Entschlossenheit musikalisch vermittelt muß. Da fehlt es ihm dann doch an Kernigkeit und auch an Volumen. Traumhaft schön gerät dann wieder sein Duett mit Lucy Crowe am Ende des zweiten Aktes, in dem die beiden Stimmen sich umschmiegen und schließlich zu einer Einheit verschmelzen. Es ist einer der musikalischen Höhepunkte des Abends.

Der zweite Countertenor der aktuellen Besetzung, Jakub Józef Orliński in der Rolle des Dieners Unulfo, ist seit seinen fulminanten Auftritten als Rinaldo im Bockenheimer Depot der Liebling des Frankfurter Publikums. Seine Stimme ist im Vergleich zu Andreas Scholl weniger abgerundet, wirkt dafür aber frischer und markanter. Seine Doppelbegabung als athletischer Breakdancer kommt in dieser Inszenierung nicht zum Tragen (gegen Ende kann er es sich aber nicht verkneifen, unter dem Beifall des Publikums ein Rad zu schlagen). Dafür offenbart er großes komödiantisches Talent. Optisch erinnert seine Figur an den frühen Charlie Chaplin. Diese Vorgabe nutzt Orliński, um mimisch und gestisch auch dann präsent zu sein, wenn er gerade nichts zu singen hat.

Jakub Józef Orliński (Unulfo)

Als Usurpator Grimoaldo macht das ehemalige Frankfurter Ensemblemitglied Martin Mitterrutzner eine ausgezeichnete Figur. Sein heller und elegant geführter Tenor kommt fabelhaft mit Händels Koloraturen zurecht und hat mit den Jahren nun auch genügend Kraft und Volumen entwickelt, um einen großen Zuschauerraum zu füllen. Einen Bariton-Bösewicht wie aus dem Bilderbuch gibt Božidar Smiljanić als Intrigant Garibaldo, kernig und mit angemessener Schwärze. Abgerundet wird die ausgezeichnete Besetzung durch Katharina Magiera in der Rolle von Bertaridos Schwester Eduige, deren dunkel timbrierter Mezzo in einem reizvollen Kontrast zu den beiden hellstimmigen Countertenören steht.

v.l.n.r. Jakub Józef Orliński (Unulfo), Fabián Augusto Gómez Bohórquez (Flavio), Božidar Smiljanić (Garibaldo), Martin Mitterrutzner (Grimoaldo) und Statist der Oper Frankfurt (Wache) sowie oben Lucy Crowe (Rodelinda)

Nach langer Abwesenheit ist Barockspezialist Andrea Marcon zum Opernorchester zurückgekehrt, das er in gewohnter Weise vom Cembalo aus leitet. Die Frankfurter Musiker haben sich im Laufe der Jahre zu Spezialisten der historisch informierten Aufführungspraxis entwickelt. Insbesondere die Streicher können scheinbar mühelos von spätromantischer Üppigkeit bei Schreker und Wagner auf vibratoloses Spiel und beredte Phrasierung mit Barockbögen umsteigen. So ist ein lebendiger Barock-Sound zu hören, der bei bewegteren Stellen einen unwiderstehlichen rhythmischen Drive entwickeln kann. Zumindest im Parkett vermißt man aber gelegentlich die Intimität und klangliche Direktheit des Bockenheimer Depots, welches für Musik des 18. Jahrhunderts akustisch geeigneter erscheint. Allerdings haben Premierenbesucher aus den Rängen berichtet, daß insbesondere der Klang des Orchesters dort präsent und packend wahrzunehmen ist. Womöglich sollte, wer sich noch um einige der wenigen Restkarten in Folgevorstellungen bemühen will, das berücksichtigen.

Weitere Vorstellungen gibt es am 25. und 30. Mai sowie am 1. und 8. Juni.

Michael Demel, 22. Mai. 2019

© der Bilder: Monika Rittershaus