Frankfurt: „Ulisse“, Luigi Dallapiccola

Bericht von der Premiere am 26. Juni 2022

Zwölfton-Belcanto und Euro-Trash

Als der Komponist Luigi Dallapiccola anläßlich der Uraufführung seiner Oper Ulisse (unter dem in Deutschland gebräuchlicheren griechischen Namen „Odysseus“) an der Deutschen Oper Berlin im Jahr 1968 gefragt wurde, warum denn das Werk in deutscher Sprache aufgeführt werde, entfuhr ihm ein Seufzer. Das sei ein „notwendiges Übel“. Schließlich müsse ja das Publikum in die Lage versetzt werden, dem Drama zu folgen. Seinerzeit gab es aber noch keine Übertitel. Warum die Oper Frankfurt unter dem italienischen Titel „Ulisse“ nun trotz Einsatzes von Übertiteln den deutschen „Odysseus“ gibt, erschließt sich nicht. Man mag darin allenfalls den Beweis dafür erbracht sehen, daß dieses Werk sich nicht durchgesetzt hat. Denn Dallapiccola erläuterte damals weiter, daß in solchen Fällen, bei denen eine neue Oper sich nach vierzig bis fünfzig Jahren etablieren könne, also Teil einer Kultur werde, welche keine Grenzen kenne, man dann zur Originalversion zurückkehren könne. Schließlich werde ja auch inzwischen Wagner in Italien auf Deutsch und Verdi in Deutschland auf Italienisch gegeben. Der Verzicht auf die Originalsprache bei der Frankfurter Erstaufführung ist also ein untrügliches Zeichen dafür, daß hier eine Oper den tiefsten Tiefen des Vergessens entrissen wurde. In Deutschland wurde sie zuletzt 1984 in Oldenburg aufgeführt.

Das hat Gründe. Nicht zuletzt liegt es an dem vom Komponisten selbst verfassten Libretto, welches Homers Epos mit der Weiterspinnung der Odysseus-Geschichte in Dantes Göttlicher Komödie und allerlei sonstigen literarischen und philosophischen Lesefrüchten anreichert und modifiziert, die sich allenfalls Kennern erschließen, und vollständig wohl noch nicht einmal diesen. Zunächst aber folgt Dallapiccola in geraffter Form dem klassischen Original und präsentiert in rascher Szenenfolge den Abschied von Kalypso, den Aufenthalt bei den Phäaken, wo dann über Erzählungen des Titelhelden die Episoden bei den Lotophagen, mit der Zauberin Kirke und der Abstieg in den Hades heraufbeschworen werden, und schließlich die Heimkehr nach Ithaka mit dem Gemetzel an den Freiern der Penelope. Aber schon dabei findet eine philosophische Übermalung statt, spielt das Motiv der Selbstfindung, ausgedrückt in der Eigen- und Fremdbezeichnung als „Niemand“ die zentrale Rolle. So läßt Dallapiccola den heimgekehrten Helden keine Ruhe finden, sondern schickt ihn mit Dante als rastlos Suchenden wieder hinaus auf das Meer. Dort, und das ist eine über Dante hinausgehende Erfindung des Komponisten, erfährt Odysseus eine Art pantheistische Epiphanie: Der gestirnte Himmel über dem Meer verschafft ihm die Erfahrung einer göttlichen Präsenz als Antwort auf seine Suche. Der Zuschauer sollte also vor dem Besuch der Vorstellung mindestens seine Homer-Kenntnisse auffrischen, besser noch den Einführungsvortrag in dem etwas trockenen, aber informativen Video der Frankfurter Dramaturgie anhören, nicht nur, um sich szenisch zu orientieren, sondern auch, um die Abweichungen, Ergänzungen und Fortspinnungen zu erkennen.

Iain McNeil in der Titelpartie

Die Musik dazu hat einen besonderen Reiz. Da sie einem vom Komponisten in Abgrenzung zu Schönberg entwickelten, durchaus aber ähnlich strengen Zwölfton-Dogma folgt, gibt es keinerlei erinnerbare melodische Motive oder zusammenhangstiftende harmonische Beziehungen. Vielmehr schafft der Komponist trotz der für das menschliche Ohr und Hirn zufällig wirkenden Tonfolgen und vertikalen Abläufe reizvolle Kontraste über eine für jede Szene charakteristische, abwechslungsreiche Instrumentierung. Die Führung der Gesangsstimmen schließlich wahrt oft ein gewisses Moment von Sanglichkeit. Das hat den großen Ulrich Schreiber, der dem Ulisse in seinem monumentalen Standardwerk „Die Kunst der Oper“ im vierten Band immerhin fast sechs Seiten widmet, zu der verwegenen Zwischenüberschrift „Ein Füllhorn des Wohlklangs“ verführt. Die Oper Frankfurt tut in der Neuproduktion alles, um diese Zuschreibung zu beglaubigen. Das Orchester unter der Leitung von Francesco Lanzillotta entfaltet den Farbenreichtum der Partitur und ermöglicht es dem Zuhörer so, wo doch harmonische und melodische Sinnstiftung fehlt, die kompliziert ausgetüftelte Musik wenigstens als suggestiven „Soundtrack“ zu erleben. Bei der Besetzung kombiniert die Oper Frankfurt die Stars ihres Ensembles mit aufstrebenden jungen Talenten und wenigen Gästen. Die großartige Claudia Mahnke etwa ist sich nicht zu schade, mit ihrem warmen Mezzo in einem kurzen Auftritt als Odysseus‘ Mutter Antikleia zu glänzen, Andreas Bauer Kanabas hat sichtlich Spaß daran, neben dem Ausspielen der stimmlichen Möglichkeiten seines profunden Baßbaritons darstellerisch den König Alkinoos als doppelbödige Figur zwischen Herrscher und Entertainer zu zeichnen. Auch Katharina Magiera mit ihrem sonoren Mezzo in der Doppelrolle als Kirke und Melantho und Juanita Lascarro mit ihrem fruchtigen Sopran in der Doppelrolle als Kalypso und Penelope liefern darstellerisch ausgefeilte und musikalisch profilierte Kabinettstückchen ab. Die Krone aber gebührt Iain MacNeil in der Titelpartie. Der junge Sänger verströmt sich mit seinem frischen und markanten Bariton geradezu und weiß sein attraktives Stimmmaterial dabei differenziert abzutönen. Er führt tatsächlich vor, daß „Zwölfton-Belcanto“ keine paradoxe Wortkombination sein muß. Die Saftigkeit gerade seiner hohen Lage hat sogar gleich zwei Kritikerkollegen in ihren Premierenberichten zu dem Fehlschluß verleitet, es handele sich bei ihm um einen Tenor. Mit im Kontrast dazu dunklerer Stimmfärbung stellt auch Danylo Matviienko als Antinoos erneut die Potenz seines Baritons unter Beweis. Er schwingt sich im zweiten Teil als Wortführer unter den Freiern der Penelope zum nicht nur stimmlich vor Virilität strotzenden Gegenspieler des Odysseus auf. Wie stets bereitet Brian Michael Moore mit seinem gut geführten, angenehm timbrierten Tenor Freude, dieses Mal in der kleinen Partie des Hirten Eumäos. Es wäre an der Zeit, sein Potential in größeren Partien auszuschöpfen. Die wenigen Gastsänger fügen sich in das Ensemble, ohne aus ihm herauszustechen, so Sarah Aristidou mit mädchenhaft-hellem Sopran als Nausikaa, Yves Saelens in der Doppelrolle als Demodokos und Teiresias sowie Dmitry Egorov, für dessen in Frankfurt in vielen Partien bewährten Countertenor die kleine Rolle des Telemachos wenig Gelegenheit zur Profilierung gibt. Schließlich ist der Chor zu loben, der szenisch stark gefordert ist und musikalisch die nicht geringen Anforderungen der Partitur souverän bewältigt.

Iain MacNeil (Odysseus), Yves Saelens (Demodokos), Andreas Bauer Kanabas (Alkinoos) und Sarah Aristidou (Nausikaa)

Musikalisch steht diese Produktion also glänzend da. Die Regiearbeit von Tatjana Gürbaca im Bühnenbild von Klaus Grünberg und den Kostümen von Silke Willrett vermag dagegen die Einschätzung von Ulrich Schreiber nicht zu entkräften, daß das Stück sich wohl eher für konzertante Aufführungen eigne. Schon das Setting kann nicht überzeugen: Die Einheitsbühne zeigt eine heruntergekommene Tiefgarage mit zum Teil abgebrochenen metallenen Stützsäulen unter gedrungener Decke. Daß man ein Stück, das durchgängig einen szenischen Bezug zum Meer aufweist und seine abschließende Erlösungsszene auf offener See spielen läßt, dessen Komponist sein musikalisches Material aus einer wellenförmigen Zwölftonreihe gestaltete, die er „Mare I“ nannte und von der er zwei Ableitungen unter der Bezeichnung „Mare II“ und „Mare III“ entwickelte, daß man also ein solches in Text und Musik gleichsam meerdurchflutetes Werk durchgängig in einem offensichtlich unterirdischen, von Luft, Licht, Wasser und gar einem Meeresblick abgeschotteten Raum spielen läßt, drückt auf die Stimmung der Zuschauer und vereitelt ein atmosphärisches Einfühlen in das physische Erleben des Protagonisten. Viele Kritikerkollegen haben dazu die Behauptung der Regisseurin im Programmheft abgeschrieben, es handele sich hier um eine „Ausgrabungsstätte“, in welcher „Schichten freigelegt“ würden. Auf der Bühne ist aber nichts von Ausgrabungen zu sehen. Diese Inszenierungsidee ist eine bloße Behauptung und bleibt szenisch folgenlos. Ausgegraben wird allenfalls jener Inszenierungsstil, den man mit einigem Recht „Eurotrash“ nennt und der allenfalls noch für Theaterhistoriker von Interesse schien, hier aber als poppig-bunter Untoter seine oft aufdringlichen Verrenkungen mit einer unangenehmen Neigung zur Überdeutlichkeit aufführt. Da gibt es ein Kopf-unter-den-Rock-stecken bei Odysseus‘ Begegnung mit Nausikaa, Penis-Aufsatz-Taschen für die Freier, Cheerleader-Gewuschel und eine Modenschau der scheußlichsten Verirrungen aus den letzten Jahrzehnten. Daß Gürbaca den Regisseur Konwitschny als Lehrer und großes Vorbild nennt, der allzugern mit dem Holzhammer inszeniert und dem kaum etwas zu trashig, zu ordinär, zu zotig oder zu plump ist, ist leider gerade in der ersten Hälfte allzu oft zu erkennen. De gustibus non est disputandum. Dem Sitznachbarn jedenfalls hat gerade das gut gefallen: „Immer was los auf der Bühne!“

Vor allem im ersten Teil verwischt die Inszenierung zudem die in der Musik durch Zwischenspiele markierte und durch Instrumentierungswechsel klar herausgestellte Trennung der episodenhaft präsentierten Szenen. Wer sich vorher nicht gründlich in Homer und am besten noch in Ulrich Schreibers Opernführer eingelesen hat, wird im szenischen Misch-Masch und allgemeinen Getümmel nur schwer identifizieren können, ob man sich noch bei den Phäaken, schon bei den Lotophagen oder gar bereits im Hades befindet. Der zweite Teil am Hofe Ithakas gelingt dann stringenter, weiß sogar nebst geschickten Beleuchtungseffekten die Aufbauten plausibel zu nutzen und ist dazu geeignet, den vom szenisch schwachen ersten Teil ermatteten Zuschauer mit der Inszenierung zu versöhnen.

Fazit: Das Stück ist literarisch und musikalisch fordernd. Man sollte sich diesem zwei Stunden langen Abend nicht unvorbereitet aussetzen. Die musikalische Qualität der Aufführung beglaubigt den Rang als eines der wichtigsten Musiktheaterwerke der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die szenische Umsetzung belastet ein Libretto, das zu Recht als „Extremfall der Literarisierung“ (Ulrich Schreiber) gilt, mit einer zusätzlichen „Idee“, die sich als schwach und für das Verständlichmachen der Intentionen des Komponisten wenig hilfreich erweist und in welcher der überwunden geglaubte „Euro-Trash“ fröhliche Urständ feiert.

Michael Demel / 10. Juli 2022

© der Bilder: Barbara Aumüller

Weitere Vorstellungen gibt es am 15., 18. und 21. Juli.