Graz: „Die Fledermaus“

K(r)ampf im Boxring und Scheißhaus!

Fledermaus rächt sich in der Bedürfnisanstalt – so titelte unmittelbar nach der Premiere die lokale Kleine-Zeitung in ihrer Nachtkritik. Ich hingegen halte mich bei meinem Titel an den aufgeführten Text und schreibe Scheißhaus – wie es eben in der Neuen Dialogfassung von David Gieselmann in einer Bearbeitung von Maximilian von Mayenburg heißt. Gefängnisdirektor Frank nennt sich selbst ausdrücklich Direktor dieses Scheißhauses. Der letzte Akt spielt also nicht in einem Gefängnis – es gibt nur Klozellen, in denen sich die Akteure übergeben und in denen Sexualpraktiken geübt werden. Frosch ist kein Gefängniswärter, sondern eine Reinigungskraft, die sich schon in der Pause im Foyer unter das Publikum gemischt hatte und sich selbst als Facility Manager des Opernhauses bezeichnet. Der renommierte Schauspieler und Kabarettist Adi Hirschal in und an Wien verloren gegangen, wie er sich selbst bezeichnet – war mit dieser blass gezeichneten und unspektakulären Bühnenfigur arm dran. Kein Wunder, dass er diesen Auftritt auf seiner Website verschweigt

Der im Titel erwähnte Boxring wird im 2. Akt bei Orlofskys Fest – oder wie es diesmal heißt Party – aufgebaut. Das Lachcouplet der Adele Mein Herr Marquis wandelt sich zu einem Boxkampf zwischen Eisenstein und Adele, in dem Eisenstein k.o. geht. Laut Programmheft findet Adele schlagkräftige Argumente, warum sie ganz sicher nicht im Hause des Herrn von Eisenstein angestellt ist. Auch diese Szene zeugt vom krampfhaften Bemühen des Leading Teams, alles neu und besonders „humorig“ zu machen. Es war halt leider ein Humor, der nichts von der Subtilität und dekadenten Zwiespältigkeit des Meisterwerks vermitteln konnte. Der Regisseur Maximilian von Mayenburg hatte um sich ein Team versammelt, mit dem er schon wiederholt zusammengearbeitet hat: Tanja Hofmann (Bühne), Frank Lichtenberg (Kostüme), Sebastian Alphons (Licht) und Kira Senkpiel (Choreographie). Eines kann man diesem Team gerne bescheinigen: sie haben an einem Strang gezogen – die Teile fügen sich zu einem konsequenten Ganzen, allerdings zu einem krampfhaft überspitzten und außerdem langatmigen Ganzen, das am Ende vom Publikum mit deutlichen Missfallensäußerungen bedacht wurde. Im Mittelpunkt des Konzepts steht Dr. Falke, der nach einem Maskenball von Eisenstein nicht nur betrunken im Fledermauskostüm zurückgelassen und dem Spott ausgesetzt wurde – wie im Original vorgesehen -, sondern Falke wurde in Mayensburgs Sichtweise damals schwer verwundet, sodass er über diese Verletzung nicht hinwegkommt (Zitat aus dem Programmheft). Falke ist im Rollstuhl und organisiert das Fest bei Orlofsky als eine grelle Rache- und Weltuntergangsparty mit Figuren, die irgendwo zwischen Rocky Horror Picture Show und Halloween angesiedelt sind. Außerdem wird der dramatische Duktus des 2.Aktes abrupt unterbrochen: das Publikum wird während des Festes in die Pause geschickt, bekommt auf Kosten des Hauses ein Glas Sekt und muss sich langatmige Textpassagen anhören, in denen Falke nicht nur die Fledermaus-Vorgeschichte aus seiner Sicht erzählt, Belehrungen über die Scheinheiligkeit des Brüderlein, Schwesterlein-Walzergesangs von sich gibt, sondern auch direkt das Publikum anspricht, um ihm zu versichern, dass es Teil des Ganzen ist und um belehrend die Endlichkeit des Lebens vor Augen zu führen. Er habe veranlasst, dass sowohl auf der Bühne als auch im Foyer ein Gift in den Sekt gemischt worden sei, das allen nur mehr eine Stunde Lebenszeit lässt….. Der 2. Teil des zweiten Akts mündet dann in einen regelrechten Totentanz, in dem zuletzt Rosalinde mit einer Totenkopfmaske erscheint. Man erspare mir, weitere Details zu schildern!

Wie schon so manches Mal in der letzten Zeit in Graz retten die musikalischen Leistungen den Abend! Beginnen wir mit dem jungen Berliner Dirigenten Marcus Merkel. Er ist seit der Saison 2015/16 am Grazer Haus – zunächst als Korrepetitor und nun als Kapellmeister. Er hat sich bereits vielfach als Einspringer in Oper und Konzert bewährt, hatte schon Premieren und Wiederaufnahmen zu betreuen und bewies auch diesmal nicht nur seine auffallende musikalische Begabung, sondern auch die Fähigkeit, Orchester, Chor und Solisten mit energischer Hand zusammenzuhalten und ausgewogenes Musizieren zu ermöglichen. Das war diesmal schon wegen der ungewohnten Gegebenheiten wahrlich nicht einfach. Das Orchester saß nämlich auf dem Niveau der ersten Parterre-Reihen. In der Mitte musste ein Durchgang frei bleiben, weil Chor, Ballett, Statisterie und die Solisten wiederholt aus dem Zuschauerraum durch das Orchester aufzutreten hatten – auch das ein längst abgenutzter Regieeinfall, um zu dokumentieren, dass das Publikum Bestandteil des Ganzen ist. Marcus Merkel dirigierte ohne Pult und Partitur vollkommen auswendig. Dass da keine größeren Pannen passierten, ist seiner Koordinations- und Improvisationsgabe zu danken. Die Grazer Philharmoniker waren blendend disponiert und musizierten animiert, ohne sich vom Bühnengeschehen ablenken zu lassen. An ihren Mienen glaubte ich allerdings ablesen zu können, was sie von dem Regiespektakel hielten. Und sie spielten nicht nur ausgezeichnet – auch als Chor haben sie sich bewährt, weil zum Einzug des Prinzen Orlofsky der Egyptische Marsch von Johann Strauß eingefügt wurde, bei dem sie wie die Wiener Philharmoniker beim Naujahrskonzert stimmkräftig den Refrain sangen (hier deren Aufnahme unter Christian Thielemann aus dem Jahre 2019). Natürlich war durch die ungewohnte Aufstellung die Klangbalance zwischen Orchester und Bühne permanent ein wenig gefährdet. Aber man hatte vorgesorgt: vor den Blechbläsern waren durchscheinende „Lärmschutzwände“ aufgebaut und der Dirigent führte die Solisten achtsam. Also: großes Kompliment an Orchester und Dirigent!

Der Chor war sehr gut studiert (Leitung: Bernhard Schneider) und erwies sich – fast bis zur Selbstverleugnung – spielfreudig bei der Umsetzung des Regiekonzepts. Auch das Ballett und natürlich auch die Statisterie trugen ihren Teil bei, um die gewünschte Endzeitstimmung entstehen zu lassen. Das sehr gute Solistenteam hätte sich eine bessere Regie verdient. In der Reihenfolge des Programmzettels seien sie ausdrücklich gewürdigt: Alexander Geller war ein eleganter und stimmsicherer Eisenstein, der in dieser Inszenierung keinen Wiener Charme zeigen durfte. Elissa Huber bewies an diesem Abend – wenige Tage vor ihrem 32.Geburtstag! – als Rosalinde alle Qualitäten, die eine Operettendiva braucht: blendende Bühnenerscheinung, Temperament, Spielfreude und vor allem eine farbenreiche Sopranstimme, die auch den Csárdás geradezu bravourös meisterte – für mich die Entdeckung des Abends! Markus Butter war ein prägnanter und überaus wortdeutlicher Frank, der mit seiner Bühnenpersönlichkeit phasenweise die Inszenierung vergessen ließ. Die Katalanin Anna Brull war die gebührend skurrile Orlofsky-Figur, die nicht Russisch zu radebrechen hatte, sondern zunächst in ihrer Muttersprache sprechen durfte (von Ida jeweils ins Deutsche übersetzt – auch so ein krampfhaft-lustiger Einfall!). Der junge Pole Albert Memeti – aus dem Grazer Opernstudio hervorgegangen und heuer erstmals fix engagiert – war eher eine Cherubino-Figur als ein italienischer Gesangslehrer, machte aber seine Sache gut und überbrückte auch geschickt einige Unsicherheiten.

Der Routinier Ivan Oreščanin löste souverän seine undankbare Aufgabe, den übertrieben gezeichneten Drahtzieher und Bösewicht Falke zu verkörpern. Selbst die langen, oben schon erwähnten Textpassagen vermochte er plastisch zu gestalten. Darstellerisch blieb kein Wunsch offen. Manuel von Senden hatte als Advokat Dr. Blind aus einer Parterreloge auf die Bühne zu klettern und lieferte dann das von ihm seit Jahren gewohnt-präzise Rollenportrait. Sieglinde Feldhofer gelang es, dank ihrer natürlichen Bühnenausstrahlung eine überzeugende Adele zu sein, die selbst im Box-Dress ihr Couplet stimmlich differenziert vorzutragen und auch im 3.Akt berührend und stimmschön die Unschuld vom Land zu verkörpern verstand. Eva-Maria Schmid war eine charmante Ida und Adi Hirschal hatte ich schon eingangs bedauert, seine schauspielerischen Qualitäten nicht zeigen zu dürfen.

Das Publikum bedachte am Ende die Protagonisten mit großem und verdientem Beifall. Beim Auftritt des Regieteams hörte man deutlichen Unwillen. Das kürzte dann auch den allgemeinen Applaus merklich ab. Beim Verlassen des Zuschauerraums sah ich viele eher resignativ-ratlose Gesichter. Freude hat diese Produktion nicht vermittelt – aber auch nicht nachdenkliches Interesse! Da waren Le nozze di Figaro, die Maximilian von Mayenburg vor zwei Jahren in Graz inszeniert hatte, trotz mancher damals geäußerter Einschränkungen, wesentlich besser und schlüssiger gelungen. Diesmal – und ich komme damit zum Titel meines Berichts zurück – war die szenische Umsetzung ein Krampf, den sich das sehr gute Ensemble nicht verdient hat!

Hermann Becke, 20. 10. 2019

Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch

Hinweise:

– 14 weitere Vorstellungen bis Februar 2020 (mit wechselnden Besetzungen)

Kurzvideo als Vorschau (0:54)