Sternstunde und Ehrenrettung
Sternstunde und Ehrenrettung – so betitelte Peter Hagmann seine Kritik über Engelbert Humperdincks Königskinder in der Neuen Zürcher Zeitung vor rund 10 Jahren. Und diesen Titel übernehme ich mit Überzeugung für meinen Bericht über die aktuelle Premiere an der Oper Graz – es war ein verdienter und einhelliger Erfolg!
Die Uraufführung der ersten Fassung als Melodram fand 1897 in München statt. Da das Werk jedoch kaum ins Repertoire übernommen wurde, überarbeitete es Humperdinck eingehend als Oper. Am 28. Dezember 1910 wurde dann diese überarbeitete Fassung an der Met in New York uraufgeführt – praktisch zeitgleich mit Puccinis Fanciulla del West. Zitat aus dem Programmheft: Beide Meister waren fern jeder Rivalität. Humperdinck wohnte mit Interesse der Generalprobe und Aufführung seines gefeierten Kollegen bei, Puccini ließ es sich nicht nehmen, Orchesterproben der „Königskinder“ zusammen mit Toscanini zu besuchen. Bei gegenseitiger Hochschätzung vereinten sie die ihnen gemeinsam zugedachten Ehrungen und Bankette.
Die Oper Graz hatte das Werk bereits im Jahr nach der Uraufführung nachgespielt und 1931 in der Urfassung nochmals auf den Spielplan gesetzt. Seither war es in Graz nicht mehr zu erleben – und so ist der Oper Graz sehr zu danken, dass dieses Werk wieder auf die Bühne geholt wurde, sagte doch Ingo Metzmacher, der vor rund 10 Jahren Produktionen in Berlin und in Zürich leitete, es handelt sich bei den ‚Königskindern’ um die weitaus bessere Musik als in Hänsel und Gretel. Erst ab der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts gab es wieder vermehrt Aufführungen, darunter auch so manche konzertante. Die detaillierten szenischen Anweisungen machen es ja heute wahrlich nicht leicht, den Wünschen der Autoren nachzukommen – siehe dazu folgenden Text aus dem Klavierauszug der Entstehungszeit:
Bei der Uraufführung an der Met verkörperte Geraldine Ferrar, einer der Sopranstars der Zeit, die Gänsemagd. Star hin, Star hin – Geraldine Ferrar war umgeben von einer Schar lebender Gänse! – das ist hier auf der Homepage der Oper Graz samt köstlichem Foto nachzulesen. Nicht überliefert ist allerdings, ob es damals auch den vorgesehenen gelben Kater, den Raben mit gestutzten Flügeln und das Nest wilder Turteltauben gegeben hatte. Das Grazer Regieteam um Frank Hilbrich jedenfalls verzichtete auf lebendige Tiere und fand eine eindrucksvolle, ja packende szenische Lösung. Frank Hilbrich verbindet seit Jahren eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Volker Thiele und der Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht. Man hat z. B. viel Positives über den Freiburger Ring dieses Teams gelesen. Ihnen ist mit sparsamen Mittel eine zeitgemäße Interpretation dieses tragischen Kunstmärchens für Erwachsene gelungen. Zwischen drei weißen Wänden wird durch eine Fototapete und buntes Herbstlaub zunächst im1.Akt Märchenhaftes vermittelt – die Gänse sind Stofftiere, mit denen die Gänsemagd spielt. Der Brunnen wird durch einen Eimer ersetzt. Schon da ist das Märchenhafte deutlich von der umgebenden, feindlich-kühlen Welt abgetrennt. Mit dem Auftritt des Spielmanns und der beiden Repräsentanten der Gesellschaft (Besenbinder und Holzhacker) fällt die Tapete, das Laub wird weggekehrt und eine skurril überzeichnete Bürgergesellschaft beginnt das Geschehen zu dominieren.
Der 2. Akt ist dominiert von den großen Chorszenen – da hat die Regie zu einem klugen und bildhaften Effekt gegriffen: alle Solisten, Chor und Extrachor (drastisch agierend und kompakt singend – Leitung: Bernhard Schneider) sind dick aufgeblasen-deformierte Kunstfiguren. Durch diesen Kunstgriff wird das Irreale der Szene sehr gut vermittelt – menschliche Figuren in diesem Pandämonium einer Spießergesellschaft bleiben nur der Spielmann, der Königssohn und die Gänsemagd – und vor allem auch die Kinder! Die in großer Besetzung auftretende Singschul‘ der Oper Graz (Leitung: Andrea Fournier) hat an diesem Abend einschließlich des kleinen Solosoprans Victoria Legat Außerordentliches geleistet und ihre mehrfache nationale und internationale Anerkennung als Kinderchor eindrucksvoll bestätigt. Zum Ensemble kann ich nochmals zu einem Zitat aus der eingangs erwähnten Besprechung aus Zürich greifen: das bis in die kleinste Nebenrolle exzellent besetzte Ensemble kann sich voll entfalten! Im ersten Akt ist Christina Baader eine prägnante Hexe. Wilfried Zelinka als Holzhacker und Martin Fournier als Besenbinder sind stimmlich und darstellerisch markant gezeichnete Figuren. Anna Brull und Mareike Jankowski sind als dicke Wirtstochter und Stallmagd kaum zu erkennen und charakterisieren ihre Partien hervorragend. Thomas Essl ist ein aufgebläht-wichtiger Wirt, der zarte Albert Memeti ist ein überdimensionierter Schneider und David McShane verkörpert überzeugend den Ratsältesten. Allen gemeinsam ist eine außerordentlich textbezogene und stets verständliche Artikulation – insgesamt eine großartige Ensembleleistung ohne Schwachpunkt.
Gekrönt wird die Ensembleleistung durch eine exzellente und in jeder Hinsicht rollenadäquate Besetzung der Hauptpartien. Polina Pastirchak kennt man in Graz als ausgezeichnete Bohème-Mimi – übrigens im Jahr 2017 wie diesmal unter dem Dirigat von Marius Burkert. Als Gänsemagd überzeugt sie mit klar-fokussiertem Sopran, der sowohl mit strahlenden Spitzentönen die Ensembles anzuführen versteht, aber auch über berührende Pianotöne verfügt. Im ersten Akt ist die kindliche Betulichkeit von Humperdinck allzu breit angelegt – da wirkte Pastirchak noch ein wenig künstlich-aufgesetzt. Im 2. und 3. Akt überzeugt und berührt sie dann auch als Figur vollends. Gleiches gilt übrigens auch für den Königssohn von Maximilian Schmitt, für den dies nicht nur ein Graz-, sondern auch ein Rollendebut war. Hier lernte man einen absolut sicher geführten Tenor kennen, der hörbar und erfolgreich auf dem Weg vom Lied- und Oratoriensänger zum deutschen romantischen Opernfach ist. Das hat sich schon mit seiner 2016 erschienenen CD bei Flotow, Weber, Marschner und Wagner angekündigt. An so manchen Stellen hat er mich an Peter Schreier erinnert, den Schmitt ja auch in einem Interview als Vorbild erwähnt hatte. Beiden ist eine natürliche Bühnenausstrahlung zu bescheinigen, die zweifellos auch durch eine sehr gute Personenführung der Regie unterstützt wurde. Auch die Textartikulation ist vorbildlich.
Der dritte im Bunde der Hauptfiguren ist das Grazer Ensemblemitglied Markus Butter, der mit seiner Gestaltung des Spielmanns restlos überzeugte. Er war nicht nur durch seine große Bühnenpräsenz und dank exzellenter Textartikulation eine prägnante Bühnenfigur, sondern er sang mit seinem markig-prägnanten Bariton die großen liedhaften Phrasen sehr schön. Dank einer aufmerksamen Orchesterbegleitung und eines für alle Sänger akustisch sehr vorteilhaften Bühnenbilds wurde er nie zum Forcieren genötigt und konnte die geforderten großen Bögen über das Orchester spannen. Er war es auch, der sich am Ende des Stücks nicht mehr an den (in dieser Version aus dem Off singenden) Kinderchor, sondern direkt an das Publikum wendete – jeder, egal ob als Zuschauer oder Ausführender, soll Teil der ‚Menschenorgel‘ werden – gewissenermaßen zu einem Chor derjenigen, die den Glauben an das Gute im Menschen nicht aufgeben (so Regisseur Frank Hilbrich im Programmheft). Markus Butter hat diesen Appell so überzeugend vorgetragen, dass das Lichtwerden im Zuschauerraum nicht notwendig gewesen wäre – wir hätten und haben den Appell des Spielmanns und Humperdincks auch ohne diese vordergründige „Regienachhilfe“ verstanden. Aber das ist eine meiner ganz wenigen einschränkenden Anmerkungen zu einem hervorragenden und zeitgemäßen Regiekonzept Die zweite Einschränkung bezieht sich auf das übertrieben spastische Gehabe der Hexe während der Einleitung zum ersten Akt, das nicht nur mir unverständlich blieb, sondern das auch dem von Humperdinck gewählten Untertitel Der Königssohn und damit der Musik widersprach, ohne einen zusätzlichen Aspekt des Werkverständnisses einzubringen. Aber ich muss mich wohl damit abfinden, dass in unserer von Bildern und Medien dominierten Welt Vorspiele immer bebildert werden müssen. Die tafelnden Kinder während des Vorspiels zum 2.Akt waren wenigstens originell und passten zum Untertitel Hellafest und Kinderreigen. Vollends überzeugend war es bei dem musikalisch wunderbaren Vorspiel zu 3.Akt, wie sich der verletzte Spielmann aus dem sich nach hinten verengenden weißen Gang auf das Publikum zu bewegt – das passte zur Musik.
Und so kommen wir zurück zur Musik:
Die Grazer Philharmoniker und ihr Dirigent Marius Burkert waren ein ganz wesentlicher Teil des großen und einhelligen Publikumserfolgs. Da gab es sehr schöne Einzelleistungen der Instrumentengruppen (Hörner, Holzbläser, Harfe, Solovioline), die Marius Burkert zu einem harmonischen Gesamtbild zusammenführte. Da gab es trotz großer Besetzung nie ein unausgewogenes Klangbild oder ein Dominieren gegenüber den Solisten. Und so kann ich das wiederholen, womit ich diesen Bericht begann: es war eine Ehrenrettung für ein leider viel zu wenig aufgeführtes Werk und es war geradezu eine Sternstunde für die Oper Graz, wo sich alles (Inszenierung, Orchester, Chor und Solisten) zu einem selten zu erlebenden, geschlossenen Ganzen auf hohem Niveau zusammenfügte!
Hermann Becke, 15. 12. 2019
Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch
Hinweise:
–
11 weitere Vorstellungen bis März 2020 (mit wechselnden Besetzungen)
Dank youtube können Operninteressierte zumindest zwei komplette Aufnahmen nachhören – die erste, nun wahrlich schon historische Aufnahme mit Peter Anders und Dietrich Fischer-Dieskau aus dem Jahr 1952 . Die zweite Aufnahme stammt aus dem Jahre 1989 (Helen Donath, Adolf Dallapozza, Hermann Prey unter Heinz Wallberg). In der Diskographie gibt es derzeit 6 Aufnahmen – unter anderem auch mit Jonas Kaufmann und Klaus Florian Vogt