Graz: „Lucia di Lammermoor“

Premiere am 23. 3. 2019

Stimmlich exzellent!

Konnte man aus terminlichen Gründen eine Premiere nicht besuchen, dann hat das für den Berichterstatter so manchen Vorteil:

– Erfahrungsgemäß weiß man, dass sich ab der dritten, vierten Vorstellung die Premierennervosität gelegt hat und alles musikalisch meistens besser läuft.

– Über die szenische Umsetzung muss man nicht mehr berichten, weil es schon eine Reihe von Pressereaktionen gibt.

– Die Oper Graz hat die (mir nach wie vor unverständliche) Eigenheit, dass der zur Produktion gehörende Video-Trailer immer erst einige Tage nach der Premiere veröffentlicht wird. So kann ich nun – im Unterschied zu allen Premierenkritiken – in meinem Bericht ausdrücklich darauf Bezug nehmen – das Video (8:26) mit ausführlicher Schilderung des Regiekonzepts durch die Lucia-Interpretin Ana Durlovski ist jedenfalls empfehlenswert, weil es die ernsthafte Auseinandersetzung einer Interpretin mit den Vorgaben ihres Regieteams vermittelt.

– Und nicht zuletzt ist es anregend, ja erheiternd, wenn man schon vor Besuch die kontroversen Reaktionen lesen konnte, die auf der Facebookseite der Oper Graz zu finden sind.

Beginnen wir also mit den musikalischen Eindrücken des besuchten Abends und da kann man die Äußerung einer Besucherin uneingeschränkt bestätigen: Das sind Stimmen auf international höchstem Niveau!

Die 40-jährige Mazedonierin Ana Durlovski war eine großartige Lucia. Sie hat stimmlich und technisch diese anspruchsvolle Partie, die für die damals 21-Jährige ihre Debutrolle in Skopje war, wahrlich perfekt im Griff. Speziell die bezaubernden Piani und die eigenwillig timbrierte Mittellage und Tiefe beeindruckten. Da gab es keinerlei Intonationsschwankungen und kein unnötiges Forcieren, alle Spitzentöne waren sicher und nie virtuoser Selbstzweck. Sie überzeugte aber vor allem auch durch eine menschlich bewegende Gestaltung. Der 28-jährige Weißrusse Pavel Petrov ist seit der Saison 2016/17 Mitglied im Ensemble der Oper Graz. Beim „Operalia“-Gesangswettbewerb für junge Opernsänger bis 32, dessen Finale 2018 in Lissabon stattfand, war er doppelter Gewinner: Er konnte nicht nur den Opern-Gesangswettbewerb (hier in einem Ausschnitt als Bohème-Rodolfo), sondern auch den Zarzuela-Wettbewerb für sich entscheiden. Petrovs Entwicklung ist wirklich sehr erfreulich – man konnte seit seinem Beginn in Graz von Rolle zu Rolle eine kontinuierliche Steigerung erleben (Alfredo, Prunier in La Rondine, Rodolfo, Belfiore in Viaggio a Reims, Lenski, Narraboth). Mit dem Edgardo hat er zweifellos internationales Format erreicht. Für ihn gilt das für Durlovski Gesagte: souveräne technische Beherrschung der Partie ohne jegliches Forcieren. Auch in der schauspielerischen Gestaltung hat er sich gut weiterentwickelt. Den russischen Bariton Rodion Pogossov kennt man in Graz schon von seinem Luna im Herbst 2017. Er verfügt über eine robust-markante Stimme mit absolut sicheren Höhen, nur in der tieferen Mittellage fehlt es ein wenig an Wärme und auch an Volumen. Seine machohaft-herrische Ausstrahlung passte sehr gut zum Regiekonzept. Auch den jungen Weißrussen Alexey Birkus konnte man in Graz schon kennenlernen – als überzeugenden Gremin. In der Rolle des Raimondo erwies er sich als ein sehr guter Vertreter des italienischen Basso-cantante-Fachs mit schönem Timbre und sicheren Höhen. Seine Tiefe wird sich wohl im Laufe seiner weiteren Karriere noch verbreitern.

Die kleineren Partien waren aus dem hauseigenen Ensemble mit Andrea Purtic (Alisa), Albert Memeti (Arturo) und Martin Fournier (Normanno) gewohnt profiliert gestaltet. Der stark besetzte Chor & Extrachor der Oper Graz (Einstudierung: Bernhard Schneider) nutzte das akustisch günstige Halbrund des „Operationstheaters“ zu kompakt-kräftigem und klangschönem Chorklang und bewährte sich auch im engagierten Spiel – etwa in der geschickt gestalteten Tanzszene der Hochzeit.

Der junge italienische Dirigent Andrea Sanguineti hatte sein Grazer Debut mit „La Traviata“ im Herbst 2017 und kehrte mit „Il Trovatore“ zur Eröffnung der Saison 2017/18 zurück. Nun leitete er die Neuproduktion von „Lucia di Lammermoor“ mit sicherer Hand und großen Gesten. Er bevorzugt zügige Tempi und knatternde Forti, zeichnete aber auch mit den an diesem Abend sehr gut disponierten Grazer Philharmonikern agogisch fein ausgewogene lyrische Phrasen (Harfe, Hörner und die Glasharmonika). Auch das Mitatmen mit den Gesangssolisten fiel angenehm auf und gelang bruchlos. Alles in allem: musikalisch war es ein besonders gelungener und vom Publikum freundlich akklamierter Abend.

Zur Regie

Man kennt in Graz das Team Verena Stoiber (Regie) und Sophia Schneider (Bühne & Kostüme) schon von der Tristan-Inszenierung des Jahres 2016. Damals schrieb ich:

„Die Jung-Regisseurin hat in einem Interview eingestanden: ‚Ich brauche eine gewisse Reizüberflutung, damit ich mich nicht langweile.‘ Und sie hat die szenische Realisierung tatsächlich heillos überfrachtet. In den drei Aufzügen kommen alle heute zeitgemäßen Ingredienzien und überschütten das Publikum mit der von der Regisseurin für sich in Anspruch genommenen Reizüberflutung“. Dem ist drei Jahre später nichts hinzuzufügen – so war es auch heute!

Ein konkretes Beispiel zur diesmal gewählten Reizüberflutung:

Die Donizetti-Oper spielt bei Stoiber/Schneider im Operationstheater des französischen Hysterie-Forschers Charcot. Also werden weibliche Patientinnen auf die Bühne gebracht. Ein Bild dieser psychisch kranken Frauen aus der Lucia-Produktion ist übrigens das Titelbild der Facebookseite der Regisseurin:

Was man nicht sieht

In der Inszenierung müssen die Statistinnen nicht nur konvulsivisch zucken, sondern sich auch splitternackt ausziehen und sich danach mit einem Wasserschlauch abspritzen lassen. Das darf natürlich nicht auf den Aufführungsfotos und im Internet gezeigt werden. Der neue Algorithmus von Facebook soll ja Nacktbilder automatisch erkennen und in einem nächsten Schritt an eine menschliche Überprüfungsinstanz weiterleiten, die über eine Sperre entscheidet. Bei einer szenischen Aufführung gibt es dieses Regulativ nicht, also schöpft das Regieteam die mögliche Reizüberflutung voll aus…….

Wenn man wohlmeinend ist, kann man das so sehen, wie dies eine Besucherin geschrieben hat: Die Regisseurin hat einfach die Thematik auf krasse Weise weitergedacht, und das stringent und konsequent umgesetzt. Wie wunderbar, dass eine Belcanto Oper 2019 polarisiert, verstört und zu Diskussionen führt!

Und so komme ich am Ende zu der am Anfang zitierten Kritik von Peter Skorepa zurück – er schreibt: Wer auf der Bühne kein Blut sehen kann und kein Irrenhaus und keine Kranken (ich füge ein: und keine Nackten), sollte diese Inszenierung meiden. Für Freunde interessanter Regiearbeit allerdings empfehlenswert, und es bleibt auch genügend Belcanto übrig.

Hermann Becke, 5. 4. 2019

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Hinweise:

– Die große und reife Leistung von Ana Durlovski sei im Hinblick auf ihre private Belastung ganz besonders gewürdigt! Wie groß muss ihre Erleichterung gewesen sein, als sie wenige Tage vor der Grazer Premiere erfahren durfte, dass ihr Mann Igor Durlovski (ein international geschätzter Sänger und der früherer Intendant der Oper Skopje) in Mazedonien vom Terrorismusverdacht freigesprochen wurde – siehe den Zeitungsbericht vom 15.3.2019 und das Interview mit Ana Durlovski vom Dezember 2017. Da Ana Durlovski im Einvernehmen mit der Oper Stuttgart selbst an die Öffentlichkeit gegangen war, scheint es legitim, nun die offensichtlich positive Entwicklung ihrem Publikum im Rahmen dieser Aufführungskritik mitzuteilen.

– Eine historische Reminiszenz:

Die südafrikanische Sopranistin Mimi Coertse löste in den 1960er-Jahren in Graz mit ihrer Lucia und später auch mit ihrer Norma Riesenbegeisterung aus. Opernfreunde stürmten die Vorstellungen. Ich erinnere mich auch an ihre Lucia mit dem großartigen Alfredo Kraus an der Wiener Volksoper im Jahre 1965. Dank youtube kann man einen großen Teil der Wahnsinnsszene hier in der Interpretation von Mimi Coertse nachhören – eine auch heute noch absolut gültige Interpretation!