Soweit ich das überblicke, wurde Zenders Winterreise-Interpretation bisher erst ein einziges Mal in Graz aufgeführt. Im Jahre 2003 war Graz „Kulturhauptstadt Europas“. Aus diesem Anlass gab es eine großartige Konzertserie unter dem Titel Ikonen des 20. Jahrhunderts Da war das Zender-Werk dabei und zwar in einer exquisiten Besetzung, die auch auf einer 2015 neu aufgelegten CD dokumentiert ist: das Wiener Klangforum unter Sylvain Cambreling und der Tenor Christoph Prégardien. Ja – es ist sicher richtig: die komponierte Interpretation – so nannte es Zender selbst – der Schubert’schen Winterreise, uraufgeführt unter der Leitung von Hans Zender in Frankfurts Alter Oper im September 1993, zählt inzwischen zweifellos zu den Ikonen das 20.Jahrhunderts und wird europaweit regelmäßig aufgeführt – zuletzt z.B. szenisch in Stuttgart oder im Vorjahr als Ballett in Zürich. Am Tag nach der Grazer Aufführung folgt im Opernhaus Nürnberg die konzertante Version.
Der Oper Graz ist sehr zu danken, dass man diese Ikone neuerlich aufführt. Mich persönlich freut es nicht zuletzt deswegen sehr, weil ich als besonderer Winterreise-Liebhaber die Aufführung im Jahre 2003 nicht besuchen konnte und nun das Live-Erlebnis hatte, das nie durch das Hören noch so exzellenter CD-Aufnahmen ersetzt werden kann. Die Oper Graz nutzte die Anwesenheit von Maximilian Schmitt in Graz – exzellent sein Debüt als Erik im Holländer (siehe bei Interesse unten meine OF-Kritik vom 24.April) – und ermöglichte ihm ein weiteres Debüt: eben die Zender-Version der Schubertschen Winterreise. Der 45-Jährige deutsche Tenor hat reiche Schubert-Erfahrung. Es gibt eine schon neun Jahre zurückliegende CD-Aufnahme der Schönen Müllerin mit dem Pianisten Gerold Huber und in den letzten Monaten trat Maximilian Schmitt mit der Winterreise in München, Köln und Wien auf.
Der renommierte deutsche Komponist und Dirigent Hans Zender (1936 -2019) schrieb in seiner Werkeinführung unter anderem:„Es wird berichtet, daß Schubert während der Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschien. Die ersten Aufführungen müssen eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst haben. Wird es möglich sein, die ästhetische Routine unserer Klassiker-Rezeption, welche solche Erlebnisse fast unmöglich gemacht hat, zu durchbrechen, um eben diese Urimpulse, diese existentielle Wucht des Originals neu zu erleben?“ Hans Zender wollte also dem Liederzyklus etwas von seiner ursprünglichen Wirkung zurückgeben, in dem er den Klavierpart zu einem geräuschnahen Orchesterstück für 24 Instrumentalisten ausweitete. Zenders klangliche Illustrationen von Schritten, von Sturm und Wind, von knurrenden Hunden, von knirschendem Eis sind sehr expressiv und erfordern ein reiches Instrumentarium – unter anderem allein drei Windmaschinen und ein reiches Schlaginstrumentarium sowie Gitarre, Akkordeon und zwei Melodicas, die von den Klarinettisten zu spielen sind.
Wie immer bei den von Chefdirigent Roland Kluttig einstudierten Werken wirkte der Orchesterpart transparent disponiert und präzise erarbeitet. Dennoch waren diesmal einige rhythmische Unebenheiten zwischen Tenorsolist und dem Kammerensemble der Grazer Philharmoniker nicht zu überhören. Da hätte ich mir manchmal auch ein wenig mehr Eingehen auf die Sängerphrasen gewünscht und vor allem weitere Aufführungen, die dann mehr selbstverständliches Miteinander-Musizieren brächten. So wirkte auf mich die gesamte Aufführung zwar gut studiert, aber noch nicht zu einem Ganzen gereift.
Auch der Tenorsolist Maximilian Schmitt brauchte einige Zeit, um sich auf die expressive Orchesterbegleitung einzustellen. In den ersten Liedern gab es einige stimmliche „Rauheiten“. Aber besonders die lyrischen Passagen, speziell etwa im Wirtshaus und in den Nebensonnen gelangen ihm hervorragend. Insgesamt erinnerte mich seine Interpretation an die distanziert-unpersönliche Evangelisten-Rolle in den Bach-Passionen. Schmitt ist ja auch ein hervorragender Bach-Interpret – zuletzt z.B. in der Johannespassion im Concertgebouw in Amsterdam. Auch die zu sprechenden Textstellen wurden nüchtern-sachlich gesprochen. Dies kann man als bewusst gewählten Kontrast, ja Kontrapunkt zur höchst drastischen Orchesterbegleitung sehen. Ich räume ein, dass ich mir mehr persönliche Betroffenheit und mehr Individualität im Ausdruck erwartet hatte, um die von Hans Zender ausdrücklich angesprochene existenzielle Wucht zu vermitteln.
Erfreulich war der gute Besuch – man konnte nicht erwarten, dass mit diesem exquisiten Eliteprogramm das Opernhaus ganz gefüllt werden kann. Ich gestehe, ich hatte sogar weniger Publikumszuspruch erwartet. Auffallend war die gespannt-ruhige Aufmerksamkeit des Publikums. Das ist immer ein Indiz, dass die Interpretation gelingt und das Publikum fesselt. Am Ende gab es für alle sehr viel Beifall samt Bravorufen.
Am Ende noch der Hinweis auf die von Hans Zender selbst dirigierte CD-Aufnahme mit Hans Peter Blochwitz und dem Ensemble Modern:
Ein wichtiger aktueller Hinweis:
Die Oper Graz setzt ihre Auseinandersetzung mit Schubert’s Liederzyklen fort. Für 25.Mai ist die Premiere von Schwanengesang – Ballett von Andreas Heise nach dem gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert angesetzt. Die Ankündigung lässt Spannendes erwarten: „Seit knapp zwei Jahrzehnten hat Wilfried Zelinka im Ensemble der Oper Graz die hiesige Opernlandschaft maßgeblich geprägt. Nun interpretiert er Franz Schuberts „Schwanengesang“ und löst sich, dank der von Andreas Heise eigens für das Ballett der Oper Graz choreographierten Umsetzung des Liederzyklus, von seiner starren Position nebst dem Flügel“ Der Opernfreund wird natürlich über diese insgesamt viermal auf dem Programm stehende Ballett-Premiere berichten.
15. 5. 2022, Hermann Becke
Szenenfotos: Oper Graz, © Oliver Wolf
Ein kritische Anmerkung sei nicht verschwiegen: Das diesmalige Programmheft war wohl allzu karg. Es enthielt nur Auszüge aus Zenders eigener Werkeinführung und die vollständigen Liedtexte. Man vermisste nicht nur den künstlerischen Lebenslauf des Solisten Maximilian Schmitt und des Dirigenten, sondern auch die Namen der Orchestermitglieder. Beim Loriot-Ring waren zuletzt alle im großen Wagnerorchester Mitwirkenden namentlich angeführt und es gab die üblichen Angaben über Dirigent und Solisten. Bei einer kammermusikalischen Orchesterbesetzung in einem zeitgenössischen Werk hätte ich das auch erwartet – als selbstverständliche und respektvolle Würdigung des Ausführenden!