Köln: „Der Meister und Margarita“, York Höller

Premiere: 03.04.2022

Szenisches Fiasko trifft große Oper: Stilistischer Ausverkauf aller modernen Regietheater-Klischees

Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ gilt als Klassiker der modernen russischen Literatur und zählt zu den wohl am meisten gelesenen Büchern des 20. Jahrhunderts. Bulgakow, dessen komplexer Roman in der Stalin-Ära entstand, aber zensiert dann erst in den 1960er Jahren als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift erschien – man hatte etwa ein Achtel gekürzt – erschuf ein Werk, dass zwischen giftiger Satire und grellem Humor aber auch an den ganz großen philosophischen Rädern dreht: So begegnet die Titelperson niemand geringerem als dem Teufel selbst, schreibt einen Roman über Pontius Pilatus und so begibt sich die literarische Vorlage auf Pfade von Gothes Faust und der Passionsgeschichte. Ja, das ist viel und vielleicht ist auch das der Grund, warum es Theatermacher immer wieder gereizt hat sich diesen Roman für die Bühne vorzunehmen.

In Köln hat man sich nun die Vertonung des Stoffs von York Höller vorgenommen und dieser Adaption wird somit etwas zu Teil, was nicht vielen zeitgenössischen Opern beschieden ist: Sie wird nachgespielt. 1989 in einer Inszenierung von Hans Neuenfels in Paris uraufgeführt, damals im Zeichen einer positiveren Zeitenwende im Verhältnis zu Russland als heute, fand das Werk enorme Beachtung. 1991 legte man es in Köln neu auf, 2013 nahm es sich die Hamburgische Staatsoper vor und nun wieder Köln. Für ein Werk diesen Ausmaßes, das einen gigantischen Orchesterapparat fordert, Live-Elektronik und dazu ein Sängerensemble von großem Ausmaß mit dazu unerhört anspruchsvollen Partien eine beachtliche Statistik.

Höller, der 1944 im Rheinland geboren wurde, zählt zu den großen Namen deutscher Nachkriegskomponisten. Höller war Schüler von Bernd Alois Zimmermann, Zeuge der Uraufführung der „Soldaten“ (die im ersten Akt kurz agierende Jazzband mag eine Reminiszenz an diese sein), arbeitete im Studio für Elektronische Musik mit Karlheinz Stockhausen und hatte zahlreiche Professuren an deutschen Musikhochschulen inne, unter anderem die für Komposition in Köln – kurz: Eine echte Persönlichkeit der komponierenden Nachkriegs-Avantgarde in Deutschland.

Höllers Musik ist stringent atonal. Die wohl beeindruckendste Szene ist sicherlich der Satansball im zweiten Akt, wenn es im Orchester immer wilder brodelt, wenn sich vom barocken Festklang über wilde elektronische Fetzen, Jazz und Rock legen, wenn es stampft und vibriert. Diese Szene ist sicherlich ein Höhepunkt und von einer Intensität, die das Werk aber bei weitem nicht in seiner Wucht über den ganzen Abend zu halten mag. Dramatisch baut Höller einen guten Bogen (wenn die Regie ihn denn bedienen würde, aber dazu später mehr), ansonsten bedient das Orchester die Szene adäquat. Die von Höller als für das Werk unerlässlich beschriebenen elektronischen Klänge müssen bei der Uraufführung Ende der 1980er Jahre sensationell gewesen sein, heutigen Hörgewohnheiten wirken sie eher fremd, wie aus der Zeit gefallen, ja manchmal museal und wie aus Science-Fiction Serien der 1960er oder 1970er Jahre entliehen. Das immens aufgeblähte Gürzenich-Orchester meistert unter der Leitung von André de Ridder seinen Part souverän und entlockt der Partitur leise, mysteriöse Töne in ebenso hervorragender Art wie das grelle und wilde Toben. Bei den zahlreichen Solisten auf der Bühne, tun sich besonders die drei Hauptrollen, Nikolai Borchev als Meister, Adriana Bastidas-Gamboa als Margarita und Bjarni-Thor Kristinsson als dämonischer Voland hervor. Aber auch die schier endlose Zahl weiterer Solisten liefert rundum Solides.

Für die Kölner Produktion wurde Regie-Shootingstar Valentin Schwarz verpflichtet, der bereits vor einigen Jahren eine nur mäßig überzeugende Interpretation von Kagels „Mare nostrum“ im Staatenhaus ablieferte. Schwarz, der dieses Jahr in Bayreuth seine Sichtweise auf Wagners „Ring“ vorstellen darf, weiß mit Höller Mammutwerk wenig bis gar nichts anzufangen. Dieser Abend strotzt zwar vor Einfällen, ist aber letztlich nichtssagend und gähnend langweilig. Es werden gesprochene Texte eingefügt, der Meister bekommt ein Alter Ego zur Seite gestellt (mit großer, ausgestellter Emphase Oscar Musinowski), die Schriftsteller werden mittels gigantischer Masken zu bildenden Künstlern, große Kostüme, Feuer, Kinder und und und, aber: Höllers Werk ist an sich schon komplex, Schwarz schafft es, dass man fast nichts versteht, noch etwas verstehen möchte, denn dieser Abend ist letztendlich nervtötend. Das beginnt bei der das Bühnenbild (Bühne: Andrea Cozzi) nach hinten begrenzenden Lichterwand, die permanent ins Publikum blendet und auf der immer wieder Worte erscheinen. Dieser Effekt, der über den Abend stetig auftaucht, hat sich aber bereits nach den ersten zwei Minuten erschöpft. Dass dieser Abend aber auch handwerkliche Mankos aufweist, zeigt sich immer dann, wenn man feststellt, dass weite Teile der Künstler auf der Bühne hinter zwar aufsehenerregenden, aber letztlich im Spiel massiv behindernden Masken und Kostümen (Kostüme: Andy Besuch) verschwinden, so dass alles zu einem emotionslosen szenischen Brei verkocht, bei dem der Zuschauer höllisch genau aufpassen muss, wer da gerade singt und welche Figur der Handlung dies sein soll.

Schwarz betreibt einen stilistischen Ausverkauf moderner Regietheaterklischees: Wenn die kostümierten Kinderstatisten und die nackte Frau auf der Bühne sind, dann kommt auf alles noch Video und der Zuschauer (an den die Regie eigentlich in keinem Moment zu denken scheint, denn anders lässt dich die mutwillige Verwirrung des Publikums nicht erklären) sitzt davor und staunt – erzählen tut das alles aber nichts. All das wirkt wie das Verrühren aller im Regiestudium gelernten Mittel und Techniken zu einer großen, grellen Pampe – eine Aussage, einer Erzählung etwas Interessantes fehlt! Peinlicher und platter Höhepunkt des Abends ist die Szene im Kabarett, in der der Conférencier uns als Gottlieb Wendehals kostümiert erscheint (ja, sogar mit obligatorischem Gummihuhn) und mit großem Krakelen eine an sich komische, ja makabre Szene hinrichtet. Überhaupt ist es erschreckend, wie sehr sich die Regie dem Humor und der Satire und leider auch der Aktualität des Stückes verweigert – stattdessen gibt es eine ärgerliche, langatmige Plattitüde nach der anderen. Die Sänger kommen nicht ins Spiel, es gibt viel bedeutungsschwangeres Rumgestehe und da, wo etwas passieren könnte, geht dann der Regieklamauk los. Wenn diese Inszenierung wenigstens etwas Provokantes, etwas Klares, etwas Griffiges in sich tragen würde – aber das was bleibt ist Langeweile. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Reihen nach der Pause deutlich gelichtet haben und auch der Schlussapplaus dürftig ausfällt. Nach der ersten Runde für alle Sänger und Dirigent – auch der anwesende York Höller muss sich hier bereits die ersten Buhrufe gefallen lassen – bleiben nur noch einige Claqueure zurück, die die heftigen Buhrufe gegen das Produktionsteam mit einigen lautstarken Bravos versuchen abzufedern.

(Bild 5)

Letztlich muss man sagen, dass dieser Abend ein szenisches Desaster ist und diese Lesart des Stückes auch einen hartgesottenen und theatererfahrenen Kritiker sprachlos, ja wütend macht, der nach über 3 1/2 Stunden Vorstellung das Staatenhaus genervt verlässt. Auch die Dramaturgie des Hauses muss sich die Frage gefallen lassen, wie so etwas passieren kann und warum zwischen dem, was uns das Programmheft auf der Bühne verheißt (gerade im Hinblick auf eine Handlungsbeschreibung) und dem was auf der Bühne passiert (und ja, als Opernfreund ist man durchaus abstraktionsfähig), oder eben nicht passiert, so eine unglaubliche Divergenz liegt. Das Ärgernis ist besonders groß, denn eigentlich hat das Werk Potential sich im Kanon moderner Opern zu behaupten – aber dann bitte anders!

Bayreuth darf sich freuen, was da kommen mag. Schwarz ließ verlauten, er wolle den Ring als eine Art Netflix-Serie anlegen. Eine Aussage, deren Leere bereits jetzt schon Schlimmes ahnen lässt.

Sebastian Jacobs