Antwerpen: „Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten)“

Hector Parra

Uraufführung: 24. April 2019

Besuchte Aufführung: 26. April 2019

Als 2006 Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ erschien, löste er heftige Diskussionen aus: Darf man die Geschichte des 2. Weltkriegs und der Judenvernichtung aus der Sicht eines SS-Obersturmbannführers erzählen, der zudem noch bisexuell ist und eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester unterhält? Die Ankündigung der Opera Vlaanderen den Roman als Oper auf die Bühne zu bringen, erregte zusätzliches Aufsehen, denn wie soll diese ausufernde 1500-Seiten-Geschichte, die in den Jahren 1941 bis 1945 spielt, adäquat mit den Mitteln des Musiktheaters erzählt werden?

Librettist Händl Klaus, der auch Texte für Opern von Georg Friedrich Haas und Arnulf Herrmann schreibt, ist das Kunststück gelungen, die wesentlichen Charakterzüge der Hauptfigur Maximilian von Aue und die wichtigsten Handlungsschritte des Romans, wie das Massaker von Babi Jar, die Schlacht von Stalingrad, die Beziehung zur Schwester und den Endkampf um Berlin beizubehalten.

Der katalanische Komponist Hector Parra schreibt dazu drei Stunden Musik, die meist unter Hochdruck steht und die Atmosphäre der Texte unterstreicht. Anfangs wirkt es, als wolle Parra hauptsächlich die Textmassen bewältigen, was zu expressiven Gesangsmelodien in unregelmäßigen Rhythmen über starr liegenden Akkorden führt. Emotional wird die Musik erst in den großen Chorszenen, die das Massaker von Babi Jar beschreiben. In zwei Tagen brachte die SS 33.000 Kiewer Juden um. Schostakowitsch thematisiert dieses Ereignis auch in seiner 13. Sinfonie.

Der als Experte für Musik der Gegenwart bekannte Peter Rundel steht am Pult des Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen und hält die Spannung der Musik gut im Fluss. Er kann aber auch nicht verhindern, dass die Intensität der Musik nach der Pause, wenn Maximilian von Aues inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester Una, in den Mittelpunkt nachlässt. Hier hätten sich Komponist und Librettist auch fragen müssen, ob von Aue als Kriegsverbrecher und Nazi oder als Privatmann interessanter ist.

Erstaunlich ist, dass die Inszenierung von Calixto Bieito ganz ohne jeden optischen Verweis auf das dritte Reich auskommt: Es gibt keine Uniformen, keine Waffen und weder Hakenkreuz noch Judenstern. Ausstatterin Rebecca Ringst verortet das Stück in einem klinisch weißen Verhörraum, der von Neonröhren kalt durchstrahlt wird. Als Symbol der Kriegsverbrechen wird der Raum mir schlickfarbenem Wasser verschmutzt, in dem sich die Darsteller immer wieder wälzen. Ein treffendes Bild über die deutsche Vergangenheitsbewältigung gibt es im Finale: Von Aue steht nackt unter der Dusche, wischt sich Dreck und Schuld ab und geht dann schick gekleidet seiner erfolgreichen Zukunft in der BRD entgegen.

Die Hauptfigur des Maximilian von Aue hat Peter Tantsits von Rainer Trost übernommen. Tantsits, der spätestens seit seinem Auftritt in der Baseler Produktion von Stockhausens „Donnerstag“ als Spezialist für moderne Musik gilt, bewältigt die gigantische Partie mit großer Souveränität. Er bemüht sich um Textverständlichkeit und Kantabilität. Gleichzeitig stellt er seinen Charakter dar, ohne ihn zu diskreditieren oder zu karikieren.

Eine weitere Umbesetzung betrifft die Partie der Mutter, die eigentlich von Nadja Michael verkörpert werden sollte. Michael wurde von der Presse einige Jahre lang zum It-Girl der Opernszene hochstilisiert, doch in den letzten Jahren hört man von der Sängerin, die gerade einmal 50 Jahre alt ist, nichts mehr: Natascha Petrinsky singt nun die Mutter mit einem Hang zur Hysterie. Schwester Una wird von Rachel Harnisch mit höhenstrahlendem Sopran interpretiert. Günter Papendell gestaltet von Aues SS-Freund Thomas Hauser mit noblem und schlankem Bariton.

Die große Oper über die deutschen Verbrechen im 3.Reich dürfte dieses Werk wohl nicht werden, dafür sind die Hauptfigur und die Handlung zu komplex. Immerhin werden „Die Wohlgesinnten“ nachgespielt werden, denn das Teatro Real in Madrid und das Staatstheater Nürnberg sind Koproduktionspartner dieser Uraufführung.

Rudolf Hermes 28.4.2019

Bilder (c) Opera Vlaanderen