Paris: „Cendrillon“

Erstaufführung in der Opéra National de Paris 29. 3. 2022

… und Präsentation der Spielzeit 2022/23

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Cendrillon (Tara Erraught) schläft nicht im Kamin, sondern im Ofenrohr einer gigantischen Maschine, die rosa Ballkleider macht – die nicht für sie bestimmt sind.


Sie haben richtig gelesen: „Erstaufführung“! Und das bei einem der erfolgreichsten französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, der 35 Opern geschrieben hat, die beinahe alle in Paris uraufgeführt wurden. Aber die meisten in der Opéra Comique, weil Massenet dieses „genre“ mit gesprochenen Dialogen besonders liebte und sein Talent sich in dem kleineren Haus besonders gut entfalten konnte. Dort war er bis 1950 der meist gespielte Komponist (gleich nach Bizets „Carmen“), bis sein Stern erlosch und nun langsam an den großen Oper wieder zu strahlen beginnt (im Januar gab es nun auch eine erste „Cendrillon“ an der Met in New York, sei es in einer stark gekürzten englischen Fassung). Nachdem man an der Opéra de Paris im 21. Jahrhundert schon „Werther“ und „Manon“ mit Erfolg (wieder) spielt, holt der Intendant Alexander Neef nun „Cendrillon“ [Aschenbrödel] an das große Haus. Eine wunderbare Märchen- und Feen-Oper, en Meisterwerk – wenn man den richtigen Ton trifft. Dafür gibt es m. E. drei Bedingungen: man muss die Rolle des Prince Charmant mit einer Frau besetzen, einem „falcon“ (nach der Sängerin Marie Cornelie Falcon), ein Stimmtypus den Massenet besonders liebte und oft einsetzte. Denn leider wurde 1978 bei der allerersten Platteneinspielung („Welterstaufnahme“) die Rolle des Prinzen an Nicolai Gedda gegeben, was ein schwerwiegender Form- und Stilfehler ist – als ob man Cherubino oder Octavian mit einem Mann besetzen würde. Dann sollte man im Werk nicht so viel streichen, wie gerade in New York. Vor allem nicht die Ballette – sie gehören nun einmal zur französischen Oper des 19. Jahrhunderts und in diesem Fall zur musikalisch so wichtigen „höfischen Kultur“ des Werkes. Und natürlich einen Regisseur und Ausstatter engagieren, der Gespür hat für eine französische Hof-Märchen-Oper. Die beiden ersten Bedingungen wurden gut erfüllt, die dritte leider nur teilweise.

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Eingekleidet für den Ball. Von rechts nach links: Lionel Lhote (Pandolphe), Daniela Barcellona (Madame de la Haltière), Charlotte Bonnet (Noémie), Marion Lebègue (Dorothée) und Tara Erraught (Cendrillon/Lucette) – in Küchenschürze.

Die Regisseurin Mariame Clément hat 2013 „Hänsel und Gretel“ an der Pariser Oper inszeniert (mit Anja Silja, die uns damals ein Merker-Interview gab) und schien deswegen eine logische Wahl. Aber Humperdinck ist nicht Massenet, ein Märchen von Grimm ganz anders als eines von Perrault – man braucht nur ihre beiden Fassungen von „Aschenbrödel“ zu vergleichen – und, mit Verlaub, französischer Esprit ist viel feiner als plumper deutscher Humor. Mariame Clément und ihre Ausstatterin Julia Hansen bauten ihre ganze Inszenierung auf einen „Gag“ auf: eine riesige Dampf-Maschine, die „Prinzessinnen machte“. Wenn man links eine Katze reinwarf und eine Menge schäbige Arbeiter an den richtigen Knöpfen gedreht hatten (eigentlich die auf Repräsentation gedrillten Hausangestellten von Mme de la Haltière), kam sie rechts im rosa Ballkleid wieder raus. Wegen dieser Maschine spielte die Handlung nicht hauptsächlich im vornehmen Palast der Haltières, sondern in einer trostlosen Fabrikhalle und starrten wir fast den ganzen Abend auf dieses 10 m breite und 9 m hohe Unding – genau wie auf die große, unnütze Hundehütte in ihrer letzten durch uns rezensierten Inszenierung („Barkouf“ von Offenbach, 2018 in Straßburg). Und so fand die zentrale Liebesszene nicht „unter einer Eiche im Feenwald“ statt, sondern in einem Keller zwischen vergammelten Wasserboilern (?) mit Tschernobyl-Look. Das ist besonders schade, denn dies alles geschah nur wegen diesem „Gag-Konzept“ und nicht – wie so oft – aus mangelndem Wissen oder Können. Denn an gewissen Details konnte man erkennen, dass beide Damen sich gut vorbereitet hatten: die Kostüme waren inspiriert durch damalige Stummfilme von Méliès (gute Idee!) und jeder Akt und jede Szene, die Massenet bezeichnenderweise „tableaux“ [Bilder] nannte, wurden eingeleitet durch eine Art „Scherenschnitt-Film“ von Etienne Guiol im Stile der damaligen „Projektionen“ des Chat-Noir (genau der richtige Ton: charmant!). Die Personenführung war präzise ausgearbeitet und für mich persönlich das Beste am Abend war die Chor-Choreographie im 2. Akt. Immer werden genau diese Ballette gestrichen, weil heute niemand mehr damit umzugehen weiß. Nun zeigt Mathieu Guilhaumon wie einfach es sein kann: unkomplizierte Polonäsen und Bewegungen, nicht zu viel, nicht zu wenig und immer der Musik folgend. Nachahmenswert! Dazu ein durchdachtes, aber dieses Mal stilvoll-dezentes Bühnenbild: der Prinz „einsam im Glashaus“ (das Palmenhaus des Wiener Burggartens) mit endlich mal atmosphärischer Beleuchtung von Ulrik Gad. Warum war nicht der ganze Abend so? Wäre das nicht genug gewesen?

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Entspanntes Kennenlernen abseits des großen Hofballs: Der Prince Charmant [Traumprinz] (Anna Stéphany), der Cendrillon (Tara Erraught) aus ihrem Kleid geholfen hat und ihr seine Turnschuhe gibt. Im Hintergrund der König in Uniform (Philippe Rouillon) und der Chor der Opéra de Paris in der exzellenten Chor-Choreographie von Mathieu Guilhaumon.

Musikalisch war der Abend ähnlich durchwachsen. Carlo Rizzi dirigierte mit Können, aber das dünnbesetzte Orchester der Oper wirkte viel zu klein in dem riesigen Saal der Opéra Bastille. Es fehlte das Flimmern, das Schimmern und der „Silberschein“, den Massenet so liebevoll und oft sehr besonders – mit z.B. Kirchenglocken und Glasharmonika – für sein „contes de fées“ orchestriert hat (das einzige Mal, dass er diese Bezeichnung unter einen Operntitel schrieb). Und als der exzellent durch Ching-Lien Wu vorbereitete Chor der Opéra de Paris „à bouche fermée“ (mit geschlossenem Mund) sang, konnte man dies im Saal kaum hören. Alles verpuffte… Da hatten die Sänger keinen leichten Stand, da sie – außer im Palmenhaus – nicht durch das Bühnenbild unterstützt wurden. Tara Erraught und Anna Stéphany kamen als Cendrillon und Prince Charmant als Einzige gut über die Rampe. Sehr schade, dass dies nicht bei Daniela Barcellona der Fall war, eine erfahrene Sängerin, an die wir viele gute Erinnerungen haben. Denn die Stiefmutter Madame de la Haltière ist die eigentliche „Lokomotive“ der Handlung und ich habe noch nie die große Arie „Lorsqu’on a plus de vingt quartiers“ ohne Bühnenapplaus gehört. Kathleen Kim klang blass als gute Fee, so auch Lionel Lhote – doch das gehört bei ihm auch zur Rolle von Pandolphe [„Pantoffel“], der gutherzig-dumme Vater von Cendrillon. Die beiden „bösen Schwestern“ Charlotte Bonnet (Noémie) und Marion Lebègue (Dorothée) waren dieses Mal viel weniger „gemein“ als meist üblich und die sechs „Esprits“ (Gehilfen der Fee) wurden auch individuell charakterisiert (Corinne Talibart, So-Hee Lee, Stéphanie Loris, Anne-Sophie Ducret, Sophie Van de Woestyne und Blandine Folio Peres). Denn, wie erwähnt, die Personenführung und die Kostüme wurden präzise ausgearbeitet. Und so kann es sein, dass die Inszenierung viel besser im Kino wirken wird (mit Richtmikrofonen und „Close-Ups“). Am 7. April wird sie „live“ in den französischen Kinos ausgestrahlt und danach sicher auch als Stream – worüber wir uns sehr freuen. Denn das ist der Sinn der ganzen Sache: diese Werke wieder ins Repertoire der Pariser Oper aufzunehmen und einem größtmöglichen Publikum zugänglich zu machen. Das einzig Positive für die Oper an der Pandemie ist vielleicht der enorme Publikums-Zuwachs per Internet und Streaming: nun 6,7 Millionen eingeschriebene Besucher auf der Homepage und über 1. Millionen Menschen die sich eine Oper zu Hause angucken mit der Plattform „L’Opéra chez soi“, die erst letztes Jahr entwickelt wurde.

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Eine modernen Umsetzung der „Eiche im Feenwald“: die „gute Fee“ (Kathleen Kim) lässt in einem vergammelten Wasserboiler im Keller ein riesengroßes menschliches Herz schlagen – die zentrale Liebesszene und musikalischer Höhepunkt der Oper.

Präsentation der neuen Spielzeit 2022/23

Am Tag nach der besuchten Vorstellung gab der Intendant Alexander Neef seine erste Pressekonferenz „in live“ (letztes Jahr hatte es nur einen Stream geben können). Er empfing im berühmten Ballett-Probenraum unter der Kuppel des Palais Garnier, zusammen mit der Ballettdirektorin Aurélie Dupont. (Der verfrüht angetretene Musikchef Gustavo Dudamel ist noch nicht ganzjährig in Paris.) Neef zeigte sich bescheiden und als kluger Diplomat. Denn bevor man überhaupt etwas über die Pariser Oper sagen und schreiben kann, muss man sich vor Augen halten, unter welchen Bedingungen man seit zwei Jahren hier (nicht) arbeitet. Das ist eine vollkommen andere Situation als z. B. an der Wiener Staatsoper. Dort schrieben Dominique Meyer und Thomas W. Platzer am 12. Februar 2021 stolz im Geschäftsbericht, dass der „Eigendeckungsgrad“ 32 % betrug.

In Paris bekommt die Oper nur 43% ihres Budgets vom Staat. Sie muss also nicht 32 % sondern 57% selbst verdienen und das ist „gefühlt“ fast doppelt so viel. In den letzten zehn Jahren ist die staatliche Subvention dazu de facto um 13 % gesunken, was jede Spielzeit finanziell zu einem Drahtseilakt macht(e). Und irgendeine Not-Kasse für unvorhergesehene Fälle gab es natürlich schon lange nicht mehr. Diese traten nun mit einer Heftigkeit ein, die niemand sich hätte vorstellen können. Erst ab 2019 der längste Streik der Pariser Operngeschichte (für den der vorherige Intendant Stéphane Lissner objektiv nichts kann), dann die „Corona-Pandemie“, die für den gesamten französischen Kulturbetrieb viel schwerwiegendere Folgen hatte als in Deutschland und Österreich. Fazit: 175 Millionen € Einnahmeschwund (fast zwei ganze Jahresbudgets der Wiener Staatsoper!).

Die Opéra National de Paris wird also „noch mehrere Jahre brauchen“, um dieses Loch zu füllen und die Hauptaufgabe des Intendanten wird in den nächsten Jahren hauptsächlich darin bestehen, die „alte Dame“ (so wie man sie hier nennt) aus den roten Zahlen zu helfen.

Deswegen ist nicht zu denken an eine Fortsetzung des „Bieto-Ringes“, an dem geprobt wurde als die Pandemie ausbrach und mit dem Philippe Jordan sich aus Paris verabschieden wollte. Und für großspurige Neuinszenierungen ist schlicht und ergreifend kein Geld da. So wird die neue Spielzeit ab September hauptsächlich aus 11 Wiederaufnahmen bestehen des „klassischen Repertoires“ wie „Tosca“, „Carmen“, „La Bohème“ und „Tristan und Isolde“ (als einziger Wagner). Von den 6 Neu-Inszenierungen wurden die Hälfte an Regisseurinnen gegeben, wovon zwei mit Dirigentinnen arbeiten werden: Lydia Steier & Simone Young für „Salome“, Deborah Warner & Joana Mallwitz für „Peter Grimes“ und Valentina Carrasco & Gustavo Dudamel für „Nixon in China“. Ausruf im Saal: „Das gab es hier noch nie!“.

Der neue Schwerpunkt „selten oder nie an der Pariser Oper gespielten französische Opern“ wird nach Massenets „Cendrillon“ nächstes Jahr fortgesetzt mit „Hamlet“ von Ambroise Thomas (seit 1938 nicht mehr gespielt) und „Roméo et Juliette“ von Gounod (seit 1985). Frage: „Aber die wurden gerade vor wenigen Wochen an der Opéra Comique gegeben, könnten Sie sich nicht besser koordinieren?“. Antwort meinerseits: Man vergisst immer wieder, in welchen Bedingungen Alexander Neef angetreten ist. 3 von den 4 Opernintendanten in Paris haben während der Pandemie das Handtuch geschmissen, Langzeitplanung gab es generell hier nicht mehr – mit wem hätte er was koordinieren können? Wir wünschen dem Haus eine wieder normale Spielzeit 2022/23, indem alle 366 Vorstellungen (182 x Oper und 184 x Ballett – Konzerte, Opernstudio etc. nicht inbegriffen) wirklich stattfinden und die nun fast 400-jährige „alte Dame“ wieder in ruhiges und sicheres Fahrwasser kommt. Bonne chance !

Waldemar Kamer, 3.4.22

Foto: © Monika Rittershaus / Opéra National de Paris

PS

Live-Übertragung in den französischen Kinos am 7. April und danach auch als Stream

Informationen auf der Homepage der Opéra National de Paris: www.operadeparis.fr