Paris: „Fin de partie“, György Kurtag

Opéra National de Paris 30. 4. 2022


Neue Oper! Nach Mailand und Amsterdam nun an der Pariser Oper in einer vorbildlichen musikalischen Umsetzung und Inszenierung. Demnächst in Dortmund…

„Fin de partie“, kurz vor „Schach-Matt“: der an den Rollstuhl gefesselte Hamm (Frode Olsen) und seine in einer Abfalltonne vegetierenden Eltern Nagg (Leonardo Cortellazzi) und Nell (Hilary Summers) können sich nicht mehr bewegen.

Seit 20 Jahren ruft man überall, dass das Genre Oper nur überleben kann, wenn man auch neue Opern nach neuen Stoffen schreibt. Doch wenn sich die großen Häuser an solche Uraufführungen wagen, werden diese so gut wie nie am eigenen Haus nachgespielt oder durch andere Opernhäuser übernommen. So erinnere ich keine einzige in den letzten Jahren an der Wiener Staatsoper uraufgeführte Oper, die an die Opéra de Paris kam – und umgekehrt. Von den Dutzenden Uraufführungen, die ich in den letzten 30 Jahren rezensiert habe, scheinen nur die neuen Opern von Kaija Saariaho und Peter Eötvös in die europäischen Spielpläne eingegangen zu sein – vor allem seine „Tri Sestry“ (Drei Schwestern), die seit der Uraufführung 1998 in Lyon mindestens 20-mal in 10 Ländern gespielt wurden, in den unterschiedlichsten Sprachen und Besetzungen. So freut es mich sehr, dass die allererste Oper von György Kurtag (1926 in Ungarn), seit ihrer Uraufführung im November 2018 in Mailand, im März 2019 in Amsterdam nachgespielt wurde und nun in der gleichen Inszenierung auch in Paris Premiere hatte. Das ist an sich schon ein beachtlicher Erfolg.

In der (verschachtelten) Hütte kann sich nur der Diener Clov humpeln und tut dies grandios (links Leigh Melrose)

Da bei der Uraufführung 2018 in Mailand schon viel über diese neue Oper geschrieben wurde, brauche ich nicht mehr auf seine lange Entstehungsgeschichte einzugehen. Es ist der Hartnäckigkeit Alexander Pereiras zu verdanken, dass György Kurtag überhaupt seine wahrscheinlich einzige Oper komponiert hat. Denn Kurtag hat vor 40 Jahren einen angenommenen Kompositionsauftrag der Oper in Amsterdam zurückgegeben mit der Begründung, dass er mit diesem Genre einfach nichts anfangen konnte. 2010 fing er dann doch mit der Komposition von „Fin de partie“ an, die sieben lange Jahre brauchte bis sie nicht in Zürich und nicht in Salzburg (wo sie offiziell angekündigt war), sondern an der Scala uraufgeführt wurde. Eine große Leistung für einen dann schon 92-jährigen Komponisten! Denn die Vorlage scheint wenig operntauglich: keine Handlung, keine Gefühlsausbrüche und kein dramatischer Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. Alles steht still, wie so oft bei Samuel Beckett. „Fin de partie“ (1957, später übersetzt als „Endgame“ und „Endspiel“) ist erst einmal eine Situation beim Schachspielen, in der die Entscheidung schon gefallen ist, einer der Spieler sich aber immer noch bewegen kann bevor er ganz „Schach-Matt“ steht. Genauso wenig Hoffnung und Handlungsmöglichkeit wie bei „Warten auf Godot“ (1953). Kurtag hat ungefähr die Hälfte des ursprünglichen Theatertextes übernommen (56% lese ich im Internet, da solche Informationen nun vollkommen in den intellektuell immer ärmlicheren Programmheften der Pariser Opern fehlen) und zu 14 „Szenen und Monologen“ seiner „Opéra en un acte“ übernommen. Dabei hat er die „Nebenrollen“ aufgewertet: neben dem blinden, an den Rollstuhl gefesselten Hamm und seinem von ihm tyrannisierten Dieners Clov, werden Hamms in einer Abfalltonne vegetierenden Eltern Nagg und Nell nun aufgewertet. Vor allem die Mutter Nell, die den Abend mit einem „Prolog“ einläuten kann: eine „Arie“ auf ein Gedicht von Beckett („Roundelay“, 1974, auf Englisch). Leider die einzige Arie des Abends, der sonst nur aus „Sprechgesang“ besteht, auch wenn dieser liebevollst Wort für Wort durch das Orchester begleitet wird, feinfühlig und oft sehr besonders orchestriert (gleich mehr dazu).

Nur leichte Perspektiv-Wechsel der Hütte sorgen für eine szenische Abwechslung in der subtilen Beleuchtung von Urs Schönebaum

Die musikalische und theatralische Umsetzung ist auf höchstem Niveau, absolut vorbildlich und man fragt sich, warum man dies nicht öfters hört und vor allem sieht. Denn es ist ein Paradox der modernen Opernwelt, dass die gleichen Regisseure die großen bekannten Werke des Repertoires mit ihren eigenen Fantasien überfrachten – wie Calixto Bieito gerade an der Staatsoper mit „Tristan und Isolde“ – und wenn es um neue Opern geht, diese mit einer vorbildlichen Werktreue inszenieren. (Bieitos Inszenierung von Aribert Reimanns „Lear“ war 2016 an der Opéra de Paris so erfolgreich, dass sie – eine absolute Seltenheit für neue Opern -2019 noch mal wiederaufgenommen wurde.) Für Pierre Audi gilt dieses Paradox nur bedingt: sein „Rigoletto“, mit dem im März an der Wiener Staatsoper debütierte, wird wahrscheinlich genauso wenig in die Geschichte eingehen wie seine „Tosca“, die zur Zeit in Paris gespielt wird (beide mit Routine über den gleichen abstrahierenden Kamm gezogen), aber bei zeitgenössischen Werken zeigt er sich oft als ein absolut hervorragender Regisseur, der genau in die Partitur und den Text horchen kann. Denn einen solchen braucht man in einem Stück, wo drei Leute, die sich nicht bewegen können, in einer Hütte eingeschlossen sind und der vierte, Clov, nur humpeln kann. Christoph Hetzer (Bühne und Kostüme) entwarf deswegen eine Hütte, die wir stets aus einer leicht anderen Perspektive sahen – was für lästige (etwas zu lange) Umbauten sorgte, aber in der subtilen Beleuchtung von Urs Schönebaum zumindest für eine, sei es minimale, szenische Abwechslung sorgte.

Doch wie gestaltet man in diesem Rahmen eine Personenführung? Umso mehr, da Beckett in seinen fast paranoiden Szenenanweisungen (30% des ursprünglichen Theaterstückes!) jede kleinste Bewegung genau festgelegt hat. Mit Hilfe des Regisseurs schaffen die vier exzellenten Sänger-Darsteller (alle seit der Uraufführung in Mailand dabei) es trotzdem in einem solchen „Korsett“ eine Handlung und Spannung aufzubauen. Dies quasi nur mit Blicken mit einer solchen Präzision, wie man sie eigentlich nur vom Theater und Film kennt und in der Oper selten begegnet. Im Gegensatz zu vielen Theaterregisseuren, die in meinen Augen nur die Hälfte des Stückes inszenieren, hat Pierre Audi (französischsprachig im Libanon aufgewachsen) sehr genau in den Text hineingehört. Denn da geht es noch um etwas ganz Anderes, was man leider aus der deutschen Übersetzung nicht mehr heraushören kann. „Fin de partie“ ist nicht nur eine Situation beim Schachspielen, sondern verhinderte Sexualität. Das Ende einer „partie fine“ (Orgie) und die Bezeichnung einer (homo)sexuellen Handlung, die nicht zur Fortpflanzung dient. Alle vier Figuren sagen dies recht deutlich auf Französisch: sie können nicht mehr, sie würden so gerne, sie wurden kastriert. Und mit Pierre Audis Hilfe zeigen sie dies auf der Bühne, ohne dass es peinlich wird. Ein besonderes Darsteller-Lob für Leigh Melrose als Clov: selten habe ich einen Schauspieler auf einer Bühne so punktgenau (je nach seiner Emotion, die er nicht aussprechen darf) …humpeln gesehen!

Am Ende „Schach-Matt“: Hamm (Frode Olsen) bleibt allein übrig

Der größte Stern des Abends war für mich der Dirigent Markus Stenz (der auch schon die Mailänder Uraufführung geleitet hat). Denn schon ein einfacher Blick in den Orchestergraben des Palais Garnier zeigte, dass dies ein besonderer und auch herausfordernder Abend werden würde. Bei 72 Musikern saßen die Celli und Kontrabasse links hinter den Geigen, weil ihr üblicher Platz rechts von 16 Musikern eingenommen wurde mit Instrumenten, denen man nicht so oft in einem Orchestergraben begegnet: 8 „Trommler“ mit den unterschiedlichsten Pauken, Becken und Zimbeln, ein Konzertflügel und neben der Harfe ein Cymbalom (Hackbrettklavier) und eine Celesta (die eher wie ein Harmonium klang). Dazu bei den Bläsern auch noch zwei Bajans (kleine Akkordeons). Doch wenn ich die Instrumente nicht gesehen hätte (ich saß in der ersten Reihe), hätte ich sie oft kaum heraushören können, da Kurtag sie nie in ihrem üblichen Modus einsetzte: kein ungarischer Zigeunerklang für das Hackbrettklavier, kein Kirchenklang für das Harmonium und kein Jahrmarktsgefühl mit den Akkordeons. Immer setzten wieder andere Instrumente ein für oft ganz ähnliche Klangtupfer, die oft bei jedem gesungenen Wort von einer Instrumentengruppe zur einer wieder anderen wechselten. Markus Stenz führte das Orchestre de l’Opéra de Paris und die vier Solisten mit einer souveränen Schlagtechnik durch die vertrackte Partitur, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Mit seinen Ellbogen hielt er das Tempo (Sprechgesang kann lähmend langweilig werden, wenn man dabei zu lange Pausen macht oder verlangsamt) und mit seinen zehn Fingern gab er die unzähligen Einsätze. Das war schon beinahe „gestische Musik“! Die vier Solisten waren exzellent. Keine Spur von Premierenstress oder Nervosität wegen ihren Debuts an der Opéra de Paris – auch wenn man mit solch spärlichen Melodien viel über ihr Können aber wenig über ihre Stimmen sagen kann. Frode Olsen sang trotz angesagter Indisposition die gewaltige Partie des Hamm, Leonardo Cortellazzi konnte als sein Vater Nagg ein bisschen Belcanto-Aura ausstrahlen, während Hilary Summers als Mutter Nell im Prolog „on all that strand“ lyrisch singen durfte. Am meisten beeindruckte mich der beinahe Caliban-artige Clov von dem oben genannten Leigh Melrose, der auch eine (zu) kurze „Arie“ hatte.

Schade, dass es keine Pause gab für diese verinnerlichte Musik und Handlung, die dem Zuhörer viel Konzentration abverlangten. Da wurden gute 2 Stunden doch für Manche zu lang. Diese Pause würde ich den nächsten Opernhäusern raten, die nun auch diese besondere neue Oper bringen wollen. Die deutsche Erstaufführung ist seit 2021 in Dortmund geplant, wonach hoffentlich noch viele andere Opernhäuser folgen werden.

Waldemar Kamer, 3.5.22

Bis 19. Mai an der Opéra National de Paris: www.operadeparis.fr

Alle Fotos: © Sebastien Mathé / Opéra National de Paris