Paris: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2022/23“

Nein, ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen. Nach der Musiktheater im Revier gibt es heute einen Rundblick über das Musiktheater in Paris mit der Opéra National de Paris (Opéra Bastille et Palais Garnier), dem Théâtre national de l’Opéra Comique, dem Théâtre des Champs-Elysées (privat) und Le Châtelet (Oper der Stadt Paris). Weitere Bilanzen sollen folgen.


Beste Gesamtleistung:
Ganz allgemein seit Jahren: Die mutigen Wieder-Entdeckungen selten gespielter Werke an der Opéra Comique und an dem Théâtre des Champs-Elysées

Größte Enttäuschung:
Salome“ an der Pariser Oper, Regie: Lydia Steier, Dirigat Simone Young.
So schlecht, dass die exzellenten Sänger gar nicht zur Geltung kommen konnten. Und dies wurde dazu groß angekündigt als „das erste Mal an der Pariser Oper, dass zwei Frauen dirigieren und inszenieren“ (siehe unten).

Entdeckung des Jahres:
Das Festival „Compositrices“ des Palazzetto Bru Zane, mit 21 unbekannten französischen Komponistinnen des 19. Jahrhunderts im Théâtre des Champs-Elysées (und anderen Orten).

Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
Sabine Devieilhe in der Vierfachrolle der Thérèse/Tirésias und Wahrsagerin (La Cartomancienne) und als Nachtigall in „Les Mamelles de Tirésias“ (Poulenc) gekoppelt mit „Le Rossignol“ (Stravinsky) am Théâtre des Champs-Elysées – endlich mal erlebt man die diaphane Sängerin auch als „Bühnentier“.

Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Ante Jerkunica als Mefistofele in „Fausto“ von Louise Bertin im Théâtre des Champs-Elysées (im obengenannten Festival). Ein spätes Debüt in Paris, obwohl er in Berlin schon König Marke und in Wien schon Sarastro gesungen hat.

Nachwuchssänger des Jahres:
Eine „Senkrechtstarterin“: Elsa Dreisig. Vor nur wenigen Jahren hörte sie hier am Konservatorium und nun stellte sie an der Pariser Oper als Juliette in „Roméo et Juliette“ (Gounod) sogar Benjamin Bernheim in den Schatten.

Bestes Dirigat:
Der italienischen Dirigent Jader Bignamini in Verdis „La forza del destino“ an der Pariser Oper – wirklich erstklassig. (Warum haben wir ihn noch nie davor in Paris gehört?)

Beste Regie:
Jean-Claude Auvray für „La forza del destino“ – es gibt noch hochkultivierte Regisseure, die sich akribisch in einen Stoff einarbeiten und sich ganz in den Dienst eines Werkes stellen.

Bestes Bühnenbild:
Alain Chambon für „La forza del destino“ – stimmungsvolle Bühnenbilder, die der Musik allen (Klang)Raum lassen.

Beste Chorleistung:
Der durch Ching-Lien Wu vorbereitete Chor der Opéra de Paris in „La forza del destino“ und in „Roméo et Juliette“ – wenn diese Dame am Werk ist, hört man einen feinen Unterschied!

Größtes Ärgernis:
Kultur-Politik für die Opern in Paris: Die sowieso schon niedrigen Subventionen wurden gesenkt, die Pariser National-Oper und das Châtelet stehen seit Jahren – und noch für einige Jahre – in den roten Zahlen und jeder Pfennig wird nun gekoppelt an ihre „poltical correctness“. So scheint das „Gender“ der eingeladenen Künstler inzwischen wichtiger zu werden als ihre künstlerische Leistung und wurde z.B. Barrie Kosky am Châtelet offiziell vorgestellt als „australischer Homosexueller“ und nicht als der (in Deutschland) hoch geachtete Regisseur, der er nun einmal ist. Das war übrigens 2020 die letzte „Oper“ am Châtelet, wo seitdem aus Geldmangel keine Oper mehr gespielt wurde/wird – in der offiziellen „Stadtoper“ von Paris!


Die Bilanz zog Waldemar Kamer.