am 5. April 2017
Napoleon hatte sehr genaue Vorstellungen davon, was man an der Pariser Oper zu spielen hatte und was nicht, was eine gute Oper erzählt und wie sie sich anhört. Er befahl, dass es mindestens acht neue Opern pro Spielzeit geben müsse und schaffte es so, die besten Opern-Komponisten seiner Zeit (Spontini, Cherubini, Paer, Mayr etc.) an die Pariser Oper zu binden. Dort konnten sie nicht schreiben was sie wollten, denn Napoleon las im Vorfeld jedes Libretto. Und er scheute sich nicht, auch in winzige musikalische Details einzugreifen – weshalb Cherubini böse das Handtuch warf. Napoleon wollte „erbauende Sujets“, „moralische Musik“ und hatte ein Faible für römische Feldherren, keusche Vestalinnen (die weltweit erfolgreichste Oper seiner Zeit) und seinen Lieblingsschriftsteller Ossian. (Privat liebte er auch die Opera buffa, vor allem die von Paisiello, und den Theaterautor Corneille – doch das ist wieder eine andere Geschichte). So wurde „Literatur“ das Hauptthema der Uraufführungen an der Kaiserlichen Oper in Paris und andere Sujets wurden strikt verboten: z.B. „gute, liebe Könige“ (die hatte man doch gerade geköpft) und die Bibel, denn die gehörte – so Napoleon – nur in die Kirche und nicht auf die Bühne.
Auch wenn das niemand schreibt – wer interessiert sich noch für die Pariser Oper um 1804 bis 1814 ? – ich bin persönlich davon überzeugt, dass die Napoleonische Tradition bis heute an der Opéra de Paris fortwirkt. Man braucht sich nur die Liste der Uraufführungen der letzten zwanzig Jahre anzusehen: alles nur Literaturopern (mit einer einzigen Ausnahme: „Adriana Mater“ von Kaija Saariaho). Seit der „Salambô“ von Philippe Fénélon (1998), nach dem Roman von Gustave Flaubert, hat sich der Blick geweitet auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts: „Perelà, uomo di fumo“ von Pascal Dusapin (2003), nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, und „Melancholia“ des Österreichers Georg Friedrich Haas (2008), nach einem Roman von John Fosse. Sonst sind es Opern über Schriftsteller: „K…“ (nach Kafka) von Philippe Manoury (2001), „L’Espace dernier“ (über Rimbaud) von Matthias Pintscher (2004) und „Akhmatova“ von Bruno Mantovani (2011).
Bei seinem Amtsantritt kündigte der Intendant Stéphane Lissner an, dass er eine ganze Reihe von Uraufführungen in Auftrag geben würde, über… „große Werke der französischen Literatur“. Das erste ist diese neue Oper über Balzac. Luca Francesconi (geboren 1956), von dem wir zuletzt eine Oper in Brüssel gehört haben („Ballata“, 2001), hat sich anscheinend das Sujet ausgewählt. Er nahm als Leitfaden eine Figur, Vautrin, die in mehreren Romanen von Honoré (de) Balzac vorkommt, so wie in den „Illusions perdues“ und den „Splendeurs et misères des courtisanes“ (jeweils drei Romane), wobei er immer wieder den Namen wechselt. Das durch den Komponisten selbst geschriebene Libretto mit vier verschiedenen Handlungsebenen ist äußerst kompliziert, wenn man es nacherzählen will. Aber wir fanden es hoch interessant und sehr gelungen. Und auch ohne erst ins Programmheft zu schauen, haben wir der Handlung mühelos folgen können (zugegeben: wir haben mehr als fünfzig Romane der „Comédie humaine“ gelesen und kannten also alle Figuren). Die gesamte Produktion ist von einem sehr hohen Niveau, ohne Übertreibung „zehn Mal besser“ als die mittelmäßige „Carmen“, die vor wenigen Wochen in Premiere ging. Hier spielen die besseren Musiker des Orchester der Pariser Oper und singt der bessere Chor der Oper (Leitung Alessandro di Stefano).
Das lag vor allem an Susanna Mälkki, viele Jahre die Leiterin des Ensemble Intercontemporain in Paris, die 2011 an der Scala auch die Uraufführung von „Quartett“ (nach Heiner Müller) von Francesconi dirigiert hat. Es war ein Vergnügen Frau Mälkki beim Dirigieren zuzuschauen. Wir trauten unseren Ohren kaum: da wurde wirklich lupenrein gespielt und gesungen – so wie wir es schon lange nicht mehr an der Pariser Oper gehört haben. Diese musikalische Qualität machte jede noch so kleine Phrase – manchmal konnte der Komponist sich etwas verzetteln – immer interessant, immer lebendig, immer auf die Geschichte bezogen. Die Besetzung war hochkarätig und die Inszenierung auch (hier ist einmal nirgends gespart worden). Guy Cassiers ist ursprünglich ein flämischer Theaterregisseur aus Antwerpen, wo wir sehr interessante Aufführungen von ihm gesehen haben. Meistens waren es selbst geschriebene Stücke, so wie ein zwanzig Stunden dauernder „Proust“ nach dem Jahrhundertroman „A la recherche du temps perdu“ (mehr als 6.000 Seiten). In der Oper hat Cassiers, abgesehen von einem kleinen „Xerse“ von Cavalli 2015 in Lille, nur eine Arbeit gemacht: den umstrittenen „Ring“ mit Barenboim an der Scala (2010-13) – vielleicht nicht das einfachste Werk um als Opernregisseur zu debütieren… Doch in „Trompe la mort“ ist er perfekt: er besitzt die nötigen literarischen Kenntnisse, um der nicht einfachen Vorgehensweise des Komponisten folgen zu können und diese dann szenisch umzusetzen. Er wird darin kongenial unterstützt durch das Bühnenbild von Tim Van Steenbergen und dessen wunderschöne und fantastisch gut genähten Kostüme (ein extra Lob für die Werkstätten des Palais Garnier unter der Leitung von Christine Neumeister).
In der – übrigens zu 100% ausverkauften – sechsten Vorstellung wirkte es so, als ob Francesconi jedem Sänger die Rolle in die Kehle geschrieben hätte: niemand zeigte die geringste Mühe – eine große Ensembleleistung. Laurent Naouri – den man wohl nicht mehr vorzustellen braucht – sang die Hauptrolle: den Ganoven Vautrin, eigentlich Jacques Collin, der sich als spanischer Priester Carlos Herrera verkleidet hat und den man im Gefängnis „Trompe la mort“ genannt hat – weil er immer wieder dem Tod entweicht.
Cyrille Dubois war der junge Poet Lucien de Rubempré, die schöne Marionette, mit der Vautrin die reichen Damen des Pariser Faubourg Saint-Germain zu Fall bringen will. Zurecht verlieben sich alle in ihn, denn der Dubois sang wunderschön (viel besser als in den letzten Rezensionen, die wir über ihn geschrieben haben). Seine große Liebe ist die Kurtisane Esther, genannt „la Torpille“, in die sich alle reichen Männer verlieben. Julie Fuchs – die man in Wien auch nicht mehr vorzustellen braucht – sang berührend schön. Auch die höchsten Töne wurden in einem mühelosen legato in die Melodie eingebunden.
Kein Wunder, dass Marc Labonnette als Baron de Nucingen ihr wörtlich zu Füssen lag und bereit war, um Ildiko Komlosi als Zuhälterin Asie Millionen zu zahlen, um mit Esther einmal im Theater erscheinen zu dürfen. Zum grenzenlosen Neid der Comtesse de Sérizy, Béatrice Uria-Monzon, und von Clothilde de Grandlieu (Chiara Skerath), die die schöne Esther nicht ausstehen können und sie zu Fall bringen mit Hilfe von den Spionen Laurent Alvaro (Contenson), François Piolino (Peyrade) und Rodolphe Briand (Corentin). Am Ende der Geschichte kommt Vautrin ins Gefängnis und tut, was in Frankreich heute noch üblich ist: er unterhandelt mit dem Staatsanwalt (Christian Helmer als famoser Marquis de Granville). Als Gegenleistung für sein Geständnis und das Verbrennen von kompromittierenden Papieren wird Vautrin zum Polizeichef von Paris ernannt. Bei dieser Ernennung ging ein Raunen durch den Saal. Denn man kann Vautrins Schlussmonolog „Les voilà donc, ces gens qui décident de nos destinées et celles des peuples“ mühelos in das Paris von Heute übersetzen, nämlich in die Schlammschlacht vor den nächsten Wahlen in wenigen Wochen.
Man verlässt das Palais Garnier mit dem Gefühl, dass sich seit zweihundert Jahren hier eigentlich nichts verändert hat. So aktuell kann Balzac sein, und so aktuell auch Oper. Wir sind gespannt auf die nächste Uraufführung an der Pariser Oper…in zwei Jahren!
Waldemar Kamer – Paris / 9.4.2017
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MerkerOnline
Alle Fotos (c) Curt van der Elst/Opéra de Paris