Paris: „Drei Ballette“

Jiri Kylian

Zu Sylvester gibt es dieses Jahr Ballett im Palais Garnier und in der Opéra Bastille

An der Opéra de Paris gibt es zu Sylvester keine „Fledermaus“ sondern ein großes klassisches Ballett, so wie letztes Jahr noch „La Bayadère“ in der opulenten Inszenierung van Rudolf Nurejew (siehe Merker 1/2016). Dieses Jahr gibt es ausnahmsweise zwei Ballette, denn der neue Ballettdirektor Benjamin Millepied, der zusammen mit dem neuen Intendanten Stéphane Lissner angetreten ist, wollte dem Ballett seinen früheren Status zurückgeben – die Pariser Oper wurde ja schließlich durch Ludwig den XIV. gegründet, der selbst ein hervorragender Tänzer war. Millepied konnte den Musikdirektor Philippe Jordan überreden, persönlich große Ballette zu dirigieren, wie seine Antrittsproduktion „Daphnis et Chloé“ (siehe Merker VI/2014) und war ein glänzender Kommunikator. Er erfand teure Ballett-Gala-Abende, wo er zusammen mit seiner Frau, einer bekannten Hollywood-Schauspielerin, erschien, und hat bei seinem offiziellen Antritt im Herbst 2015 mit solchen Abenden mehr Geld für die Oper aufgetrieben als wer auch vor ihm. Doch nach weniger als sechs Monaten schmiss Millepied das Handtuch am Tag bevor Lissner im Februar 2016 seine zweite Spielzeit bekanntgab.

Beide Herren besaßen den Anstand, um ihren Streit in den französischen Medien nicht zu kommentieren – also brauchen wir es auch nicht zu tun – und innerhalb weniger Stunden wurde die gerade in Rente gehende Tänzerin Aurélie Dupont zur neuen Ballettdirektorin ernannt. Sie bekam die nicht einfache Aufgabe, um Millepieds großes Programm nun so weit wie möglich durch zu ziehen. Denn mit dem Hollywood-Star verschwanden auch die großzügigen Spender und aus Los Angeles gab Millepied bekannt, dass die Opéra de Paris keine seiner Ballette mehr spielen darf. Diese sollten aber gerade die große Weihnachtsüberraschung der jetzigen Feiertage sein. Geplant war die ungeheure Anzahl von 48 Ballettabenden im Dezember. In der Opéra Bastille 19 mal „Schwanensee“ in der berühmten Nurejew-Produktion, im Palais Garnier 6 Vorstellungen der Eleven der Ecole de Danse und 23 Vorstellungen eines neues Millepied Balletts (zusammen mit einer Hommage an den englischen Choreographen Antony Tudor). Das sind insgesamt 98 000 extra teuere Ballettplätze in einem Monat – das gibt es an keiner anderen Oper der Welt.

"Tar and feathers"

Anstatt Millepied kamen nun drei Ballette von Jiri Kylian, 1947 in Prag geboren, den man wohl nicht mehr vorzustellen braucht. Von den über hundert Balletten von Kylian, die noch regelmäßig gespielt werden, fanden nur zehn Eingang in das Repertoire der Opéra de Paris, u.a. auch weil Kylian sehr viele Tourneen machte mit dem Nederlands Dans Theater, für das er beinahe alle seine Ballette entworfen hat. Das NDT hat so eine starke Identität – es ist die einzige Tanz-Kompanie der Welt mit auch einer gleichberechtigten Kompanie für jüngere und ältere Tänzer – dass sich seine Ballette nicht leicht exportieren lassen. Das erste Ballett des Abends, „Bella Figura“, 1995 mit dem NDT uraufgeführt, ist schon seit 2001 im Repertoire der Opéra de Paris. Die beiden anderen, „Tar and Feathers“ (2006) und „Symphony of Psalms“ (1978), wurden nun zum ersten Mal in Paris gespielt. Die Handlung der drei 20-minütigen Tänze lässt sich schwer zusammenfassen, da sie eben keine Handlungsballette sind und Kylian auch nur bedingt der Musik folgt. Eines seiner Markenzeichen ist, dass in beinahe jedem Stück auch minutenlang in Stille getanzt wird.

„Bella Figura“, auf Musik von Pergolesi („Stabat Mater“), Vivaldi (concerto für zwei Mandolinen), Torelli (concerto grosso) und Marcello (concerto für Oboe), ist eine Variation auf ein Thema das gut ins Palais Garnier passt: „eine gute Figur machen“. Vier Tänzer verführen fünf Tänzerinnen in immer neuen Konstellationen, in stilvollen Tanzkostümen von Joke Visser. Die Besetzung ist an diesem Abend nicht die allerbeste die die Oper zu bieten hat – das ist bei 48 Ballettabenden in einem Monat wohl unvermeidlich. Statt Jérémie Bélingard und Aurélie Dupont – 2001 hervorragend in diesen Rollen – sehen wir Alessio Carbone und Alice Renavand. Carbone ist einer der ganz wenigen Solisten des Ballet de l’Opéra de Paris, der nicht hier in der Tanzschule begann. Er folgte dem Unterricht seiner Eltern an der Tanzschule der Scala, tanzte dort im Ballett und kam erst mit 24 Jahren nach Paris. Das ist wohl der Grund warum dieser hervorragende Tänzer bis heute nicht zur „étoile“ ernannt wurde, obwohl er seit zwanzig Jahren zu den Publikumslieblingen gehört und seine Partnerin – wohl eine „étoile“ – vollkommen in seinem Schatten bleibt. Alle tanzen technisch perfekt, aber da kommt es bei Kylian nicht drauf an. In den komplizierten Gruppen, wo die Tänzer ihre halbnackten Partnerinnen hochheben, und Skulpturengruppen bilden die an den Bildhauer Auguste Rodin (und auch an einige Ballette von Maurice Béjart) erinnern, geht es nicht mehr um klassischen Tanz, sondern um Archetypen der menschlichen Beziehungen. Diese werden hübsch und artig auf die Barock-Musik getanzt (eine Geste auf jede Note) und das Ganze bekommt etwas „höfisches“, das Ludwig den XIV. wahrscheinlich gefallen hätte, aber uns (und den Grossteil des Publikums) vollkommen kalt ließ.

"Symphonie of Psalms"

Im zweiten Ballett „Tar and Feathers“ hat Kylian – auch sein eigener Bühnenbildner – einen Flügel auf die Bühne gestellt, dessen Beine um vier Meter erhöht wurden. Dort oben sitzt die Pianistin Tomoko Mukaiyama, die zu Mozart Klavierkonzert Nr 9 etwas Eigenes als „live-Improvisation“ erfindet. Zu den Tänzern können wir wenig sagen, denn sie wiederholten ungefähr genau das Gleiche, was wir im vorigen Ballett schon gesehen haben. Der Höhepunkt war also das dritte Ballett, das einzige mit nur einer Musik: Stravinskys „Psalmensymphonie“ (von der leider nur Auszüge gespielt wurden). Hier zeigte sich Kylian von seiner besten Seite: große Ensembles, Symmetrien, durchbrochene Kreise – perfekt getanzt durch das Ballett der Opéra de Paris. Doch damit der Abend wirklich großartig hätte werden können fehlte eines: Entgegen aller Versprechungen des Intendanten und der neuen Ballettdirektoren, dass man die Ballettabende nicht mehr durch zweitrangige Gast-Orchester begleiten würde, sahen wir etwas noch Schlimmeres: einen leeren Orchestergraben. Alle drei Ballette wurden mit Tonband begleitet! Und darüber sprachen einige Besucher ihre Empörung aus. Denn wenn man 130, 143 und an gewissen Feiertagen sogar 250 Euro für einen Platz (im Parkett) zahlt, kann man doch zumindest „live-Musik“ erwarten. Darüber klagen die Tänzer der Pariser Oper seit Jahren: „mit dem Ballett wird das Geld verdient, was dann in der Oper ausgegeben wird“.

Waldemar Kamer 19.1.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online (Paris)

Fotos (c) Ann Ray / Opéra de Paris