Vorstellung am 13.10.2017
Der Intendant der Opéra de Lyon, Serge Dorny, konnte wohl selbst nicht ahnen, als er das Programm für die nun anlaufende neue Saison unter dem Motto „Kriege und Könige“ plante, dass die Welt nun dank einiger größenwahnsinniger Regierungschefs am Rande eines Atomkrieges stehen würde. An den Beginn der Spielzeit hat Dorny nämlich nicht eine herkömmliche Oper, sondern den Versuch einer szenischen Aufführung von Brittens War Requiem gestellt, einem Werk der Trauer und des Trostes, einem Werk über den Krieg und für den Frieden.
Benjamin Britten (1913-1976) war zeit seines Lebens ein Pazifist gewesen. Diese pazifistische Grundhaltung und seine Verzweiflung angesichts von Chamberlains Vermittlungsversuchen Hitler gegenüber trieben Britten dazu seinen Freunden W. H. Auden und Christopher Isherwood 1939 in die USA zu folgen. Sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, begleitete ihn auf dieser Reise. Im Frühjahr 1942 kehrte Britten nach England zurück und in zweiter Instanz wurde ihm die Kriegsdienstverweigerung schließlich sogar zugestanden. Thema seiner ersten Oper „Peter Grimes“, uraufgeführt 1945 in London, ist die Konfrontation der Unschuld mit der Bösartigkeit und der Verdorbenheit, die verletzte Unschuld, ein Thema, das Brittens gesamtes Lebenswerk durchzieht. Im War Requiem behandelt Britten das Thema nicht als Parabel oder in symbolischer Form, sondern ganz direkt und unmittelbar. Zwei frühere Projekte Brittens, die letztlich aus verschiedensten Gründen nicht ausgearbeitet werden konnten, hätten Vorstudien zum War Requiem sein können – ein Oratorium mit dem Titel „Mea culpa“ nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945, und ein Werk im Gedenken an die Ermordung Gandhis im Jahr 1948. Somit war der Auftrag, für die Eröffnung der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry etwas zu komponieren, genau das, worauf Britten gewartet hatte.
Das War Requiem wurde am 30. Mai 1962 in der neugebauten Kathedrale von Coventry uraufgeführt, deren Vorgängerbau im Rahmen der deutschen Bombardierung der Stadt Coventry im Zweiten Weltkrieg in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 weitgehend zerstört wurde. Die Besetzung des Werks sieht Sopran-, Tenor- und Bariton-Solisten, einen Knabenchor, einen gemischten Chor, Kammerorchester und Sinfonieorchester vor. Für die Uraufführung waren die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja, der englische Tenor Peter Pears und der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau als Solisten vorgesehen. Mit der Wahl dieser Solisten beabsichtigte Britten auch die Versöhnung zwischen den vorher im Krieg verfeindeten Völkern anzudeuten. Galina Wischnewskaja bekam von der sowjetischen Kulturministerin jedoch keine Ausreiseerlaubnis, so dass sie kurzfristig durch die Engländerin Heather Harper ersetzt werden musste. („Die Kombination von Kathedrale und Versöhnung mit Westdeutschland war den Sowjets wohl zu viel.“ schrieb Britten an E. M. Forster.) Bei der ersten Schallplatteneinspielung, die im Januar 1963 unter der Leitung des Komponisten entstand, durfte Galina Wischnewskaja dann allerdings mitwirken.
Das oratoriumsartig angelegte War Requiem verbindet den lateinischen Text der „Missa pro defunctis“ mit neun englischsprachigen Gedichten von Wilfred Owen (1893-1918), die dieser in den Jahren 1917 und 1918 während eines Lazarettaufenthalts und in den Schützengräben geschrieben hatte. Die Liturgie-Texte werden dabei vom Solo-Sopran, den Chören und dem Sinfonieorchester aufgeführt. Die englischen Gedichttexte werden von den beiden männlichen Solisten gesungen, begleitet von einem zwölfköpfigen Kammerorchester. Trotz der groß angelegten Besetzung und der Aufführungsdauer von ca. 90 Minuten ist das War Requiem kein bombastisches Stück, sondern in weiten Teilen ein Werk der stillen Trauer und des Andenkens der Kriegstoten. Benjamin Britten hat seiner Partitur, die er vier Freunden gewidmet hat, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind bzw. nach dem Krieg Selbstmord begingen, Worte von Wilfred Owen vorangesetzt:
Wilfred Owen, geboren 1893 in der Grafschaft Shropshire, entdeckte schon als Kind sein dichterisches Talent. Nach Abschluss mehrerer Studien war er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Privatlehrer für Englisch an der Berlitz School in Bordeaux tätig. 1915 meldete er sich freiwillig zur Armee. Nach traumatischen Erlebnissen (u.a. lag er 1917 nach einer Schlacht drei Tage lang in einem Bombentrichter verschüttet) wurde er zur Behandlung des diagnostizierten Kriegstraumas in ein Lazarett nach Edinburgh geschickt. Ein Arzt ermunterte ihn seine Erlebnisse und besonders die daraus resultierenden Albträume dichterisch zu verarbeiten. Owen gilt als der herausragendste „War Poet“. Er schilderte schonungslos realistisch die Schrecken von Graben- und Gaskrieg. Im Juli 1918 kehrte er zum Kriegseinsatz nach Frankreich zurück. Er fiel – nur eine Woche vor Kriegsende – in der Zweiten Schlacht an der Sambre.
Bei dieser Produktion in Lyon handelt es sich nicht um den ersten Versuch einer szenischen Aufführung dieses Werks. 2013 hat Calixto Bieito eine szenische Aufführung am Theater Basel herausgebracht, die dann auch an der Oper von Oslo zu sehen war. Und bereist 2011 konnte man eine szenische Aufführung in Gelsenkirchen sehen.
In Lyon hat nun der 84-jährige Japaner Yoshi Oida, ein Schauspieler der Truppe von Peter Brook, der sich in den letzten Jahren auch als Regisseur einen Namen gemacht und der den Zweiten Weltkrieg ja noch als Kind miterlebt hat, das Werk in Szene gesetzt (Bühnenbild: Tom Schenk, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck).
Das große Orchester spielt im Orchestergraben, das Kammerorchester ist auf der linken Bühnenseite postiert, rechts sitzt eine Schulklasse der Gegenwart (der Knabenchor), die wohl gerade den Ersten Weltkrieg im Unterricht durchnimmt, denn auf die Schultafel sind die Jahreszahlen 1914 und 1918 gekritzelt. Hinter dem in der Mitte befindlichen Holzpodest, das dann größtenteils als Spielfläche genutzt wird, ist der große Chor postiert. Gelegentlich wird auf einen Gazevorhang Filmmaterial von Kämpfen des Ersten Weltkrieges projiziert.
Zu Beginn sind in weiße Tücher eingewickelte Leichen gefallener Soldaten aufgebahrt, der Chor (in einfachen Kleidern der Entstehungszeit des Werkes) steht mit Regenschirmen dahinter und betrauert die Toten. Die Sopransolistin ist, jeweils der Situation angepasst, die trauernde Ehefrau/Mutter/Tochter/Freundin, sie legt Blumen auf einen Sarg oder wäscht ein weißes Hemd blutig. Besonders berührend war die Szene, als sie Puppen, die wie verkohlte Kinderleichen aussahen, in die Fahnen der kriegsführenden Staaten eingewickelt hat. Die beiden männlichen Gesangssolisten spielen Soldaten zweier verfeindeter Nationen, die aber gelegentlich sogar gemeinsam Spaß haben können, sich eine Zigarette und eine Flasche Schnaps teilen. (Das erinnert ein wenig an den historisch verbürgten Weihnachtsfrieden von 1914, als sich in Frankreich auf engstem Raum in den Schützengräben französische, schottische und deutsche Kampfverbände gegenüber lagen.
Der in der deutschen Armee dienende Opernsänger Walter Kirchhoff hat am Heiligen Abend laut Weihnachtslieder gesungen, worauf es zu Beifallskundgebungen sämtlicher Kampfverbände kam. Die drei Kommandanten beschlossen für eine kurze Zeit die Kampfhandlungen einzustellen, um das Weihnachtsfest gemeinsam zu feiern. Es kam zu Verbrüderungsszenen zwischen den verfeindeten Soldaten, die am nächsten Tag dann wieder aufeinander feuerten.) Mit dem Gedicht „So Abram rose …“, das für mich das erschütterndste Poem von Wilfred Owen ist, haben die beiden männlichen Gesangssolisten die biblische Geschichte von Abraham und Isaac (mit letalem Ausgang) in Form eines Puppenspiels dargestellt. Yoshi Oida fand sehr berührende Bilder für seine Interpretation. Wenn Kinder um einen Sarg stehen und für den verstorbenen Vater beten berührt das mitunter mehr als wenn man literweise Blut fließen lässt.
Serge Dorny wollte auch für seine Aufführung die von Britten gewählte internationale Besetzung. So engagierte er eine russische Sopranistin, einen Tenor einer alliierten Nation (USA) und einen deutschen Bariton. Leider ging diese Rechnung nicht ganz auf, denn Jochen Schmeckenbecher sagte ab und der in Deutschland lebende estnische Bariton Lauri Vasar, der zuletzt bei den Salzburger Festspielen als Graf von Gloster in Aribert Reimanns „Lear“ sehr positiv aufgefallen war, sprang für ihn ein und beeindruckte mit seiner virilen Stimme. Ekaterina Scherbachenko sang sehr gefühlvoll, ein starkes Vibrato beeinträchtigte aber leider bei manchen forcierten Passagen den durchaus positiven Gesamteindruck. Die beste Gesangsleistung erbrachte jedoch Paul Groves, der einen lockeren GI darstellte und auch stimmlich beeindruckte; ein einziger hoher Ton, der zu Beginn nicht ganz gelingen wollte, schmälert nicht seine ausgezeichnete Leistung. Daniele Rustioni tritt mit dieser Premiere (als Nachfolger von Kazushi Ono) sein Amt als neuer musikalischer Chef der Oper von Lyon an. Der 34-jährige Italiener bewies damit, dass er nicht nur im italienischen Fach (zuletzt dirigierte er beim Rossini Opera Festival in Pesaro „La pietra del paragone“) zu Hause ist, sondern auch einem solchen komplexen Werk jederzeit gewachsen ist. Ausgezeichnete Leistungen erbrachten Chor und Orchester der Oper von Lyon und der hauseigene Kinderchor (Maîtrise de l’Opéra de Lyon).
In ihrer letzten gemeinsamen Szene treffen sich die beiden verfeindeten Soldaten im Jenseits. Dort sind sie in Frieden vereint, auch wenn sie sich auf Erden gegenseitig getötet haben. Am Schluss tritt der Chor mit Bildtafeln von getöteten Soldaten auf. Unter ihnen die Sopranistin. Und wenn ich nicht irre (aus der Entfernung konnte ich es nicht genau erkennen), dann hat sie ein Bild von Wilfred Owen hochgehalten, dessen sinnloser Tod ein dichterisches Talent frühzeitig verstummen ließ. Nach einem kurzen Moment der Stille, feierte das Publikum alle Mitwirkenden. Es wäre eigentlich viel schöner gewesen, hätte das Publikum still den Saal verlassen, aber das wäre natürlich den Mitwirkenden gegenüber nicht gerecht gewesen. Das War Requiem berührt mich jedes Mal aufs Neue, aber an diesem Abend mehr als sonst. Und wenn auch nur einer der vielen jungen Besucher durch diese Aufführung zu einem Pazifisten geworden ist, dann hat Britten auch 41 Jahre nach seinem Tod noch einmal gesiegt.
Seit 2005 fahre ich regelmäßig zu Aufführungen nach Lyon und zähle das dortige Opernhaus bereits seit Jahren zu den besten Opernhäusern Europas. Nun wird auch langsam die internationale Opernwelt auf dieses Haus aufmerksam. Im Mai wurde die Oper von Lyon von den „International Opera Awards“ zum besten Opernhaus des Jahres 2017 gekürt und erst kürzlich hat auch die deutsche Fachzeitschrift „Opernwelt“ die Oper von Lyon zum Opernhaus des Jahres ernannt. Serge Dorny, der seit 2003 die Geschicke dieses Hauses lenkt, kann sich zu Recht über diese Auszeichnungen freuen. Und diese gelungene Eröffnungspremiere wird hoffentlich nur der Beginn einer weiteren erfolgreichen Spielzeit sein.
Copyright (C) stofleth
Walter Nowotny 26.10.2017
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online