Lancelot zwischen Genièvre und Arthus – und die Menschheit in finalem Konflikt
Hintergrund: Die römischen Bürger Britanniens können im Niedergang des imperium im 5. Jhdt. n. Chr. nicht mehr geschützt werden, Rom gibt die Insel auf. Wegen häufiger Einfälle der Skoten und Pikten aus dem Norden wenden sich die Britannier an die Angeln und Sachsen um Hilfe. Die kommen, aber in unerwünscht großer Schar und übernehmen die Macht in England (Angleterre: Land der Angeln); die keltischen Britannier werden in den Westen und Südwesten der Insel zurückgedrängt, ein Teil von ihnen wandert über den Ärmelkanal aus und gründet ein zweites Britannien (heute: Bretagne). König Arthur (historisch nicht belegt) schart die Getreuen aus allen keltischen Gauen beider Britannien um sich, schlägt die räuberischen Sachsen und regiert „die Welt“ als guter König mit zwölf erwählten Rittern vom berühmten „runden Tisch“; es sollen Einigkeit und Frieden herrschen. Der gute Zauberer Merlin hilft den Rittern gegen die Sachsen. Das an sich britannische Sagengut ist über die Bretagne auch in die französische Mythologie eingewandert.
Ernest Chausson (1855 – 1899), wählte einen kleinen Ausschnitt aus der variantenreichen Mythologie zum Stoff seines opus magnum und verfasste das Libretto selbst. Nicht die einzige Parallele zu Wagners Tristan und Isolde; auch der hat aus dem riesigen Tristan-Stoff nur ein kleines und überdies überhaupt nicht repräsentatives Element des Tuns des betrügerischen Paares (Isolde betrog sogar im Gottesurteil!) herausgegriffen und zu einer „Handlung“ gedehnt. Chaussons Buch ist komplexer, aber im Hauptstrang treten die gleichen Personen auf wie in Wagners Tristan: der alte König Arthus (König Marke), seine Frau Genièvre (Isolde), der getreue Ritter Lancelot (Tristan), der neidische und verräterische Ritter Mordred (Melot) sowie Tristans Knappe Lyonnel (Kurwenal und Brangäne zugleich). Die Nacht des Ehebruchs wird im Morgengrauen von Mordred an den König verraten. Lancelot und Genièvre sterben. Einer solchen Oper hätte es nicht mehr bedurft: wer wagte seine Musik an die des Sachsen? Also muss es Zutaten und Änderungen geben. Kampf und Krieg (bei Wagner in Erzählungen verlegt) sind in Chaussons Oper Teil des Geschehens. Es kommt zum Untergang des runden Tisches durch Genièvres Ehebruch, durch aufkommende Streitigkeiten (Mordred!) und die Resignation des greisen Königs; Merlins Zauber kann nicht mehr helfen. Das Zauberschwert Excalibur kann niemand mehr heben: Spätzeit, Verfall! Wie kann man diese Gemengelage überzeugend auf die Bühne bringen, ohne einen Historienschinken daraus zu machen?
Soldaten und Ritter; einzeln in der Mitte: Bernard Imbert (Mordred)
Der Regisseur Keith Warner knüpft bei den Stichworten Spätzeit und Krieg an und verlegt die Geschichte ins Frankreich des beginnenden ersten Weltkriegs. So interessant er Einzelszenen damit auch darstellen kann, so gut seine Regieeinfälle im Einzelnen sind und so professionell die Inszenierung auch durchgearbeitet ist, insgesamt passt das nicht zusammen, ist historisch sogar paradox und vermittelt keine Gesamtbotschaft. Immer wieder stoßen sich im Raume hart die Dinge, reiben sich Text und Bühnenaktion. Was nicht zusammen passt, kann auch nicht zusammenwachsen auch nicht in den gelungenen Dekors und Kostümen von David Fielding (handwerklich gelungen im Sinne der Regie – für sich allein gestellt ebenso unsinnig). Nach der Schaffenszeit des Komponisten ging in Frankreich (wie auch in Deutschland) ein spätzeitlicher kultureller Dschungel aus verschiedenen gegenströmigen Stilrichtungen in praktisch allen Kunstgattungen im Rauch des „Großen Krieges“ auf. Nach der UA 1903 des Roi Arthus an de Munt in Brüssel, kam das Werk gerade 1916 (Schlachten um Verdun!) in Paris auf die Bühne. Wir werden bald 100-jähriges Jubiläum des Kriegsausbruchs haben; jede Menge neue Literatur dazu erscheint auf dem Markt. Das scheinen Ansatzpunkte für Verortung und Verzeitung zu sein.
Tatsächlich erklärt der Regisseur im Programm, dass diese seine Wahl vom Gedenken an den Beginn des Weltkriegs, dazu vom Aufführungsland und -ort der Produktion im Elsass beeinflusst ist, das als Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland letztlich das Millionenschlachten verursacht hat. Das ist aber so vordergründig, dass er damit dem Werk nicht gerecht werden kann. Anlässe gibt es genug, wieder und wieder auf die fatalen Ursachen und Folgen des gegenseitigen Tötens hinzuweisen. Aber der im Libretto evozierte „Bruderkrieg“, die verloren gegangene Einigkeit, das resignierte Abtreten eines Potentaten: das alles hat mit dem ersten Weltkrieg nichts zu tun. Und als Antikriegsstück eignet sich das Werk auch nicht, dessen Kernstück in dem menschlichen Dreieck Arthus, Genièvre und Lancelot besteht. Auf keines der Themen mag sich die Regie zu konzentrieren; so kommt ein kolportageartiges, in sich nicht geschlossenes und dazu historisch Sinn-entleertes Bühnengeschehen zustande.
oben: Nicolas Cavallier (Merlin); unten: Andrew Schroeder (Arthus)
Drei Akte à zwei Bilder sind zu inszenieren. Die Vorder- wird von der Hauptbühne durch einen Zwischenvorhang in Gestalt einer riesigen gewellten Trikolore abgeschlossen, vor der mit Licht ein Schwertgriff auf den Boden gezeichnet ist, zu welchem sich langsam – wieder als Lichtproduktion – das Schwert Excalibur herabsenkt. Der Zwischenvorhang wird nach den ersten Worten gehoben, der Kampf kann losgehen: man befindet sich im Generalstabsraum einer Armee, deren Stabsoffiziere um einen runden Tisch versammelt sind und sich feiern, denn man hat gerade die räuberischen Sachsen (!) vertrieben. Der große Chor ist in verschiedene Gruppen aufgespalten: die Rittergruppe um Mordred in alten operettenhaften Monturen, die anderen Ritter (Soldaten) und die Barden, die nach den Physiognomien zu urteilen Exponenten des französischen Kulturlebens des fin de siècle sind. Überall hängen blau-weiß-rote Fahnen und Wappen; anstelle von RF (für République Française) sind darauf täuschend ähnlich die Buchstaben RA gestickt (R oi A rthus oder R oyaume d’A ngleterre?) — Im zweiten Bild ist der Raum leer. Lyonnel behütet das nächtliche Stelldichein zwischen Genièvre und Lancelot, bis beim Morgengrauen Mordred eindringt und im Kampf mit Lancelot verletzt wird.
Spannung im Waffenlager: Andrew Richards (Lancelot); Andrew Schroeder (Arthus) und Elisabete Matos (Genièvre)
Der zweite Akt spielt in einem grauen Granatenlager des Kriegs. Lancelot ist hier als Krieger tätig. Er steht zwischen der Liebe zu Genièvre, die ihn hier besucht, und der Treue zum König. Die beiden fliehen schließlich. Arthus kommt und beschwört im nächsten Bild an gleicher Stelle Merlin, der mit dem Kopf nach unten in einem umgekehrten Apfelbaum von oben heruntergefahren kommt. Er lässt Arthus die Wahrheit begreifen, woraufhin dieser die herbeilaufenden Ritter in den Krieg gegen Lancelot ruft. Dazu kommt von oben ein riesiges Geschoss herunter gefahren: das muss wohl das moderne Excalibur sein, mit dem Artus seinen alten Weggefährten bekämpfen wird. Da ist er nun, de Bruderkrieg. Der dritte Akt spielt vor und in einem Militärlazarett in Form einer sehr geräumigen Nissenhütte (Entwicklung von 1916). Französische Soldaten im Original Adrian-Helm machen die Szene noch „authentischer“. Genièvre will Lancelot noch mal in den Kampf gegen Arthus schicken. Er verlässt sie in Treue zum König; sie erdrosselt sich mit ihrem langen roten Haarzopf. Das letzte Bild ist das schwächste der Oper. Lancelot ist tödlich verletzt und erscheint in seinem letzten Leinengewand wie der Sohn Gottes. Arthus verlässt die Welt durch die Reihen der Kreuze eines großen Soldatenfriedhofs. Nun spielt die Regie auch noch diese Karte, nachdem in zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit die Botschaft de Produktion nicht klar geworden ist. Arthus wird in eine silberne Rüstung eingekleidet und hätte sofort danach als Lohengrin auftreten können…
Andrew Richards (Lancelot) und Andrew Schroeder (Arthus)
Ernest Chausson war einer der französischen Komponisten der zweiten Jahrhunderthälfte, die sich dem (direkten) Einfluss Wagners und der Wagnerei entziehen wollten („Il faut nous déwagnériser“, sagte er häufig), wählt aber für seine Oper ausgerechnet einen mythologischen Stoff, in dessen Dunstkreis sich schon Wagner mit Tristan und Isolde sowie mit Parsifal fündig geworden war. Da kann man sich auch kaum dessen (direkten) musikalischen Einflüssen entziehen, zumal er bei der UA-Serie des Parsifal in Bayreuth zugegen war. Für den unbedarften Zuhörer läuft da sehr häufig auch die Musik von Tristan und Parsifal des Sachsen mit. Stark hört man auch den Einfluss von Berlioz in den gewaltigen, chaotischen Kampfmusiken in ihrer ungelenken Instrumentation sowie in vielen ruhigeren und emotionalen Passagen die dunkle Tönung (Doppelung durch sehr tiefe Holzbläser!) und die Schwere eines César Franck durch. Jacques Lacombe hatte siebzig Musiker des Orchestre philharmonique de Mulhouse im Graben versammelt, das er vom vollen etwas rauen Tutti-Klang bis zu filigranen Ausleuchtungen facettenreich durch die Partitur führte und das ihm mit großer Präzision und Konzentration ohne Wackler folgte, zumindest zu Beginn aber kalt wirkte. Für die minutiöse Arbeit des Orchesters gab es zum Schluss Extrabeifall des Publikums.
Andrew Schroeder (Arthus) Finales Kostüm für Arthus Abgang: passt nicht mehr in die moderne Welt
Bei den Sängern ergab sich ein ziemlich gemischtes Bild. Die größte Klangpracht entfaltete Nicolas Cavallier als Merlin: Mit vollem runden, schön strömenden Bassbariton beglaubigte er den Zauberer. Andrew Richards als Lancelot fing sich beim Schlussapplaus vereinzelte Buhs ein; die hatte er nicht verdient, denn er zeigte eine kräftige bronzene Mittelage; in der Höhe gelang ihm indes nicht alles, und zum Schluss schwächelte er. Durchaus solide und mit kernigem Volumen gestaltete der Bass Bernard Imbert den verräterischen Mordred. Die Titelrolle war mit Andrew Schroeder besetzt. Sein geschmeidiger kultivierter Bariton gefiel mit schönem Timbre, überzeugte aber im ersten und dritten Akt (da wäre es dramaturgisch verständlich) nicht mit seinem Volumen. Die Besetzung des Lyonnel mit Christophe Mortagnes Charaktertenor erschien verwunderlich; hätte man doch hier eher einen lyrischen Tenor erwartet; und Mortagne konnte in dieser Rolle seine überragenden schauspielerischen Fähigkeiten kaum zur Geltung bringen. Arnaud Richard konnte mit seinem runden, sonoren Bass in der kleinen Rolle des Allan überzeugen. Das konnte man von Elisabete Matos als Genièvre nicht behaupten. Dass sie am Ende kräftige Buhs erhielt, war zwar mehr als unhöflich; aber sie versuchte konstant (und meistens unnötig) oberhalb ihrer Fähigkeiten zu singen; man muss ihr allerdings auch die schwierige Rolle des ewig streitenden und wenig glaubwürdigen Charakters zugute halten, der dauernd auf dem armen hin- und her gerissenen Lancelot herumhackt.
Das Publikum um gut besuchten Haus reagierte auf den Opernabend mit diesem so gut wie unbekannten Werk nur mit verhaltenem Beifall. Wahrscheinlich richteten sich die Missfallenskundgebungen im Publikum eher gegen das Inszenierungskonzept, das dieses schwierige und unbekannte Werk dem Publikum alles andere als gaumenfertig serviert hatte. Gefeiert wurde lediglich das Orchester mit dem Dirigenten. Noch am 18., 21., 25. März in Straßburg und am 11. und 13. April im Theater La Filature in Mülhausen.
Manfred Langer, 17.03.2014
Fotos: Alain Kaiser