an der Opéra Royal de Versailles – 21.5.2013
Wagner mit einem französischen Touch
Wer hätte gedacht, dass gerade ein französischer Dirigent, Marc Minkowski, der Spiritus Rector sein würde von zwei der interessantesten Wiederentdeckungs-Konzerte des Wagnerjahres? Minkowski dirigierte im Januar im Theater an der Wien eine „Wiederholung“ des Konzerts, das Wagner 1863 im selben Saal organisiert hatte. (Der Abend wurde ausführlich im Merker besprochen, danach in Versailles und Grenoble wiederholt und wird am 30. August beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André noch einmal gegeben.) Nun dirigiert er in Versailles (Wien, Grenoble und Barcelona) nicht nur die Pariser Erst-Fassung des Fliegenden Holländers, sondern auch den völlig unbekannten Fliegenden Holländer von Pierre-Louis Dietsch. Denn die Oper von Dietsch hat dem damaligen Pariser Operndirektor – die Götter mögen es ihm verzeihen – besser gefallen als Wagners Werk, von dem er nur das Libretto kaufte. Dieses aufwendige Projekt wurde ermöglicht durch das Palazetto Bru Zane, das seit vielen Jahren als „Centre de musique romantique française“ ganz entscheidende Mithilfe in der Wiederentdeckung der (vergessenen) französischen Musik des neunzehnten Jahrhunderts gewährleistet. In dieser Spielzeit finanziert/koproduziert das Palazetto über zweihundert Konzerte und Opernaufführungen in der ganzen Welt. Die vermögende Gründerin des Palazetto, Dr Nicole Bru, hat in ihrer einzigen kulturellen Stiftung wissenschaftliche Maßstäbe gesetzt. Das Palazetto finanziert Musikwissenschaftler, die in Archiven stöbern, Verleger die gefundenen Partituren zugänglich machen, sowie Konzert- und Opernhäuser, die diese Musik spielen und Plattenfirmen, die Aufnahmen machen (eine Doppel-CD mit beiden Opern wird im Oktober bei dem Label Naïve erscheinen). So kann diese vollkommen unbekannte Partitur, die nie verlegt und seit 1842 auch nirgendwo mehr gespielt wurde, nun der gesamten Musikwelt vorgestellt werden.
Wie er es im Interview erzählt, hatte auch Marc Minkowski, Spezialist für französische Musik, noch nie von Pierre-Louis Dietsch gehört, der 1808 in Dijon geboren wurde und 1865 in Paris verstarb. Dietsch hat keine Karriere als Opernkomponist gemacht, er spielte Fagott, Kontrabass und hauptsächlich Orgel. 1840 wurde sein Bekannter Léon Pillet zum Direktor der Pariser Oper ernannt, der verschiedene Posten umbesetzte. Der einflussreiche Komponist von La Juive Jacques-Fromental Halévy wurde entlassen und an seiner Stelle der unbedeutende Dietsch zum Chordirigenten ernannt. Zwanzig Jahre später wurde Dietsch zum Kapellmeister befördert, um die Pariser Uraufführung von Tannhäuser zu dirigieren, da er diesen „unmöglichen Wagner“ kannte. Denn Richard Wagner hat die Pariser Operndirektion wirklich belagert, so wie man es in seinen vier Pariser Novellen nachlesen kann. Doch die Oper lehnte Wagners Rienzi, Der fliegenden Holländer, Die Bergwerke von Falun und wahrscheinlich auch Die Sarazenin ab. Pillet erkannte jedoch, dass Der fliegenden Holländer ein guter Opern-Stoff sein könnte – nur eben mit Wagners Musik etwas zu gewaltig für einen „lever de rideau“, eine „Vorspeise“ des Opernabends. Er kaufte bei Wagner im Juli 1841 das Libretto für 500 Francs (damals keine unbedeutende Summe) und gab as an Dietsch, mit der Bitte damit eine kurze Oper in einem Akt zu komponieren. Wagner verschwand ein Jahr später nach Dresden, wo er innerhalb weniger Monate gleich zwei Opern aufführen konnte: Rienzi am 20 Oktober 1842 und Der fliegenden Holländer am 2. Januar 1843. Dazwischen gab es noch am 9. November 1842 eine weniger beachtete Première in Paris: Le Vaisseau fantôme ou le Maudit des mers von Dietsch.
Neuerzählte Geschichte und musikalisches Patchwork
Beide Opern erzählen dieselbe uns bekannte Geschichte. Doch Dietsch hat die Handlung von Norwegen nach Shetland verlegt, weil er auch noch Elemente von The Phantom Ship von Frederick Marryat und The Pirate von Walter Scott hinzufügen wollte. Aus Senta wird Minna (ein Seitenhieb auf Frau Wagner?). Aus dem Holländer wird Troïl (ein Erdgeist), der sich aber als „Waldemar aus Schweden“ vorstellt. Aus Daland wird Barlow und aus dem Jäger Eric ein Seemannssohn Magnus (dessen Vater durch den Fliegenden Holländer umgebracht wurde). Der Steuermann heißt Eric, doch er eröffnet die Oper an Land, wo er Senta bittet, ob sie ihm und den Dorfbewohnern „die schaurige Ballade“ vorsingen kann – da sich alle in diesem verlassenen Hafen furchtbar langweilen. Senta wartet seit drei Monaten sehnlichst auf die Rückkehr ihres Jugendfreundes Magnus, der am Ende der zweiten Strophe der Ballade erscheint – und mit ihr brav die dritte Strophe zu Ende singt. Sie erinnern sich an ihre glückliche Jugend „wie Bruder und Schwester“, entschließen sich zu verloben „sobald Vater zurückkommt“ und beten zu Gott dass das auch bald geschehen möge. Doch der Vater erscheint am nächsten Morgen mit einem reichen Kapitän, der ihm das Leben rettete – und dankt heimlich dem Teufel, dass er ihm endlich „die Tür zum Reichtum“ eröffnet habe. Der reiche Kapitän will Minna erst sofort heiraten, bevor er sie gewaltvoll zurückstößt, da er „in Händen des Teufels“ sei und „nur Unglück über sie bringen“ wird. Sie betet erst, um Magnus treu zu bleiben, doch gleich danach auch um „Märtyrerin zu werden um diesen Mann zu erlösen“. Magnus ist inzwischen Priester geworden, um die beiden zu trauen, doch er erkennt vor dem Altar die Hand des Mörders seines Vaters. Er ruft mit dem Chor Gott und Engel um Beistand an, Troïl beschwört den Teufel und die Erdgeister – und die arme Minna wirft sich von dem hohen Felsen vor der Kirche ins Meer. Sie taucht danach im Himmel wieder auf, wo sie den erlösten Holländer an der Hand zu Gottes Thron führt.
Bela Bartok meinte, dass ihm bei Wagner vor allem „das fortwährende Beten auf der Bühne“ störe. Was hätte er wohl zu dieser Oper gesagt, der einzigen eines Mannes, der sonst nur Kirchenmusik komponiert hat? Erstaunlicher Weise ist es gerade das Beten, das man in der Musik am wenigsten hört. Dietsch entwickelt keinen eigenen Stil, auch keine eigene Thematik, sondern serviert uns ein Patchwork von allem, was um 1840 an der Pariser Oper mit Erfolg gespielt wurde. Wir hören Melodien, die wir bei Donizetti und Meyerbeer in ähnlichen Situationen kennen: Vollmond und Stürme aus den Opern nach Walter Scott und im Finale das „Grâce pour Robert“ aus Robert le Diable. Dazu klingen in den lustigen Momenten auch der frühe Offenbach und sogar etwas Tanzmusik an (Marc Minkowski meint, es seien schwedische Volkstänze). Das Ganze ist gefällig und wird hervorragend gespielt. Die Musiciens du Louvre Grenoble sind voll in ihrem Stammrepertoire und zeigen was sie in der letzten Zeit bei Meyerbeer, Halévy und Offenbach gelernt haben. Sie bringen jede Nuance – auch jene die Dietsch gar nicht auskomponiert hat. Die Besetzung wird überstrahlt durch die berührende Minna von Sally Matthews, die in Wien auch schon als Donna Anna und als Sophie aufgetreten ist. Sie weiß ihre Rolle stylsicher zu gestalten, mit genau der richtigen Mischung von Legato in der Mittellage und feinen Stickereien in den Spitzentönen, so wie Joan Sutherland das so unvergesslich bei Meyerbeer konnte. Russel Braun hat viel Gluck gesungen, doch inzwischen auch den Conte di Luna im Trovatore – und so wird aus dem französischen Holländer ein Verdi-Bariton. Bernhard Richter gestaltete Magnus wie ein Mozart-Tenor. Das wäre alles anders gewesen, wenn Eric Cutler, ein Spezialist dieses Repertoires, nicht indisponiert wäre und im letzten Augenblick durch Julien Behr ersetzt wurde, der die Rolle des Eric gerade einige Stunden kannte und für sein mutiges Einspringen mit einem Riesen-Applaus belohnt wurde. Auf der Platte wird man es alles noch besser hören können.
Der Holländer an der Hofoper in Versailles
Nach der Pause gab es dann zum Vergleich Wagners Fliegenden Holländer. Von Vergleich kann eigentlich gar keine Rede sein, denn beim „Prélude“ von Dietsch lauschten wir andächtig nach den verschiedenen Motiven. Bei Wagner hatte man jedoch schon in der Ouvertüre das Gefühl, dass das Theater zu klein sei. Dabei kann man den wunderbaren Saal, in dem der Hofball für die Hochzeit von Marie-Antoinette und Louis XVI gefeiert wurde, wirklich nicht „klein“ nennen. Aber es schien so als ob Wagner alle Reifröcke des Rokoko aufriss, sodass die Fetzen nur so flogen. Wer sich an Minkowskis allerersten Wagner erinnert, Der fliegenden Holländer, 1997 an der Niederländischen Reispopera, der hört wie sehr sein Verständnis für diese Musik gereift ist. Aber er spielt immer noch so schnell und geht oft über die Grenzen seines Orchesters mit historischen Instrumenten hinaus. Er beleuchtet Wagner aus einer für uns ungewohnten Perspektive: er geht von den Frühwerken aus (er dirigierte unlängst die französische Uraufführung der Feen) und von dem unverkennbaren Einfluss der französischen Oper. So spielt er die Pariser Fassung von 1841, die Wagner für das Orchester und die Sänger der Grand Opéra komponiert hat. Die Oper wird also in einem Akt gespielt (der 2¼ Stunden dauert) und Sentas Ballade einen Ton höher gesungen. Denn bei der Uraufführung in Dresden wurde die Ballade für Wilhelmine Schröder-Devrient einen Ton tiefer gelegt (und blieb seitdem so in der Partitur). Einen Ton höher verlangt sie jedoch einen anderen Stimmtypus, dem von Ingela Brimberg, einer hervorragenden Valentine in Les Huguenots von Meyerbeer. Sicher interessant, aber doch etwas gewöhnungsbedürftig für unsere deutsche Ohren. Auch in dieser Besetzung schlugen der Dauerregen und die Kälte einige Löcher. Vincent Le Texier, vor zwanzig Jahren ein wunderbarer Golaud, sprang als Holländer für Eugeny Nikitin ein und überzeugte nicht. So beherrschte der finnische Bassbariton Mika Kares als Donald (Pariserische Version von Daland) die Bühne. Ihm hörte man seine Wagner- und Verdi-Erfahrung sofort an und er entwickelte als Einziger ein wirkliches Rollenprofil. Er war auch der Einzige der seine Rolle auswendig konnte und ein perfektes Deutsch sang. Bernhard Richter war für den erkrankten Eric Cutler als Georg (Shetländische Variante von Eric) eingesprungen, während Julien Behr neben ihm offensichtlich zum ersten Mal in seinem Leben den Steuermann sang. Auch das wird in den Nachfolgekonzerten anders sein und werden wir auf der Platte sicher besser hören können: Wagner mit einem französischen Touch.
Waldemar Kamer (Paris)