Zürich: „I vespri siciliani“, Giuseppe Verdi

Calixto Bieito, hat vieles richtig gemacht: Er hat das Libretto genau analysiert, er hat das Tableau artige dieser ursprünglich für Paris als Grand Opéra konzipierten Partitur erkannt, er hat der Musik den notwendigen Raum gegeben, sich entfalten zu können – und ist trotzdem gescheitert, nicht zuletzt an sich selbst. Denn Bieito hat aus dem Text vornehmlich das herausgeschält, was ihm meistens als zentrales Anliegen erscheint: Das selbstgefällige, Macho massig, abstoßend misogyne Verhalten der Mächtigen. Auf eine kurze Formel gebracht: Männer sind Schweine.

© Herwig Prammer

Das hat er diesmal besonders deutlich gemacht, indem die französischen Besatzer Siziliens sich oftmals Eberköpfe überstülpen, und als Keiler herumkriechen und verächtlich die imposante Schleppe von Elenas Hochzeitskleid tragen müssen oder Frauen im Rudel vergewaltigen (quasi den im Text zitierten Raub der Sabinerinnen nachspielen). Aber auch die sizilianischen Patrioten und Umstürzler kriegen ihr Fett weg: Procida führt im fünften Akt – bevor er das Fanal der Glocken zum Massaker der „sizilianischen Vesper“ erklingen lässt – eine ganze Horde von Frauen in Unterwäsche an der Leine und etabliert quasi auf den gedemütigten Leibern der Frauen das Fundament seines neuen Regimes. Das Opernhaus Zürich warnt auf seiner Webseite die Besucher: In dieser Inszenierung kommt es zu Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Frauen.

Das Ganze lässt Bieito in einer zerstörten Hafenanlage ausblendend weißen Containern ablaufen. Von Szene zu Szene verschieben sich die Container, eröffnen auf der Drehbühne neue Räume und Projektionsflächen für die Videoeinspielungen von Massen- und Kriegsszenen, meistens in schwarz-weiß, bis auf ein blutüberströmtes Opfer während des Vorspiels, das in Farbe gezeigt wird. Vielleicht ist es Elenas Bruder, dessen weißen Sarg sie lange Zeit auf der Bühne hinter sich herzieht. Mal wird ein angsterfülltes, gepeinigtes Gesicht herangezoomt, mal sieht man Demagogen, die in stummen Mundbewegungen versuchen, die Massen zu verführen. Dann wieder Schlachtfelder, auf denen Hunde nach Essbarem graben. (Bühne: Aida Leonor Guardia, Video: Adriá Reixach). Gekleidet sind die Menschen in sizilianischem Schwarz, und in heutigen Kostümen. Im gesamten ersten Teil sieht man Elena in Highheels, Leggins und schwarzem Mantel, nach der Pause dann barfuß und im Unterleibchen mit Spagettiträgern, bevor sie im fünften Akt in der gigantischen weißen Hochzeitsrobe mit dem fast die ganze Bühnenbreite einnehmenden Schleier auftritt (Kostüme: Ingo Krügler).

Den in beeindruckender Lautstärke und Kompaktheit singenden Chor der Oper Zürich und Zusatzchor (Einstudierung: Janko Kastelic) behandelt der Regisseur eigentlich nur als grell kommentierende Masse, wie in einem antiken Drama. Ab und zu mal eine konventionelle Geste mit hochgereckten Händen und offenen Handflächen, effektvoll ausgeleuchtet von Franck Evin. Was Bieito ein wenig vernachlässigt, ist die interpersonelle Konstellation, er denkt in Bildern und versucht schon gar nicht, dem Publikum die Handlung und die psychischen Befindlichkeiten der Protagonisten näher zu bringen. So entsteht eine Kluft zwischen der eine Eiseskälte ausstrahlenden weißen Containerburg, dem pechschwarzen Hintergrund, den schwarzen Kostümen und der lodernd-leidenschaftlichen musikalischen Sprache. Ganz schwach fand ich den vierten Akt, mit den kleinen Gitterkäfigen für Arrigo, Elena und Procida und der unnötig komplizierten Hinrichtungs­Maschinerie. Dabei ist dieser Akt musikalisch von einer Genialität, wie sie nur Verdi hervorzubringen verstand: Das persönliche Drama der Protagonisten kontrastiert mit den De-Profundis-clamavati-Gesängen der Mönche.

Weil die Inszenierung zwischen vagen Andeutungen und expliziter Gewalt schwankte und daher irgendwie unfertig und etwas plakativ wirkte, sah sich das Produktionsteam am Ende mit unüberhörbaren Unmutsäusserungen des Premierenpublikums konfrontiert.

© Herwig Prammer

Verdi hat für die drei Protagonisten und die Protagonistin enorm anspruchsvolle und kräftezehrende Partien geschrieben. Maria Agresta als Elena musste zudem ihre Auftrittsarie auf dem Sarg des Bruders singen, der dann auch noch von Monfortes Entourage hochgehoben wurde, so dass sie den Corragio-Teil der Kavatine stehend auf dem schwankenden Sarg zu intonieren hatte. Ein nicht gerade sängerfreundlicher Einfall des Regisseurs, den Agresta aber mit Bravour meisterte. Im zweiten Akt fand Maria Agresta zu einem eindringlichen, zart intonierten Eingeständnis ihrer Liebe im Duett mit Arrigo. Das Finale des dritten Aktes krönte Maria Agresta mit wunderbaren, über dem Tutti schwebenden Phrasen. Erste Buhs gab es, weil der Regisseur dazu drei geschändete Frauenleichen von den Hauptleuten Montfortes an Stricken kopfüber hochziehen ließ. Nach einem wunderbar erfüllten Io muoio im großen Duett mit Arrigo im vierten Akt misslang ihr leider die Schlusskadenz total, da versagte die Intonation wohl wegen Ermüdungserscheinungen. Im Schlussakt hatte sie aber noch den – neben Procidas Arie im zweiten Akt-  größten Hit der Oper zu singen, den Bolero (oftmals auch als Siciliana bezeichnet, was nach Ulrich Schreiber eigentlich falsch ist): Merce dilette amiche.

Dass der Chor in der Einleitung des Boleros und danach so hämisch grölen musste, hat das Lied Elenas in einen etwas seltsamen Rahmen gesteckt, ganz abgesehen von den erwähnten eberköpfigen Schleppenträgern. Die Koloraturen Maria Agrestas klangen denn auch stellenweise etwas gequält. Unter diesen Umständen die notwendige Leichtigkeit hinzukriegen, ist bestimmt schwierig. Der Arrigo von Sergey Romanovsky (Rollendebüt) klang zu Beginn sehr einnehmend und mit wunderbarer tenoraler Frische. Aber auch bei ihm machten sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar, die er durch übermäßiges Forcieren zu kaschieren suchte. Ich weiß, dass Regisseure und Intendanten und vielleicht auch das Orchester zusätzliche Pausen nicht mögen. Aber sängerfreundlicher wäre es, wenn man bei Fünfaktern eine zusätzliche Pause nach dem zweiten Akt einlegen würde.

Immerhin vermochten Maria Agresta und Sergey Romanovsky am Ende noch mal all ihre ausdrucksstarken Kräfte zu mobilisieren und erschütternd aufzutrumpfen, so dass das Finale unter die Haut ging. Quinn Kelsey gestaltete die Einsamkeit des Herrschers Monforte, diesen Vater, der seinen verlorenen Sohn (Arrigo) zurückzugewinnen sucht, mit großer Intensität. Die Konfrontation mit Arrigo war auch von der Personenführung her ausgezeichnet gelungen, das Ringen der Beiden wurde mit einer bewegenden und brachialen Körperlichkeit ausgetragen, wohl ein szenischer Höhepunkt des Abends. Der Musikwissenschaftler und Verdi-Kenner Massimo Mila schrieb über dieses Duett: “ … Aus dem Dramenungetüm Scribes hat Verdi das entnommen, was ihn interessierte: die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn …. Das Duett aus dem dritten Akt ist eines der erhabensten Meisterwerke Verdis, großartig, einer der absoluten Werte, die sein Genie hervorgebracht hat.“ Das spürte man gestern Abend mit allergrösster Deutlichkeit. Als Procida beeindruckte Alexander Vinogradov mit der enormen Lautstärke seines klangvollen, leicht aufgeraut timbrierten Basses. In seine grosse Auftrittsarie im zweiten Akt O tu Palermo, terra adorata wusste er auch subtilere Schattierungen einzuflechten.

Eine stimmige Idee des Regisseurs war es, die kleine Partie der Vertrauten Elenas, Ninetta, durch eine stumme, mahnende Präsenz aufzuwerten. Wie ein unheimlicher Schatten der Vergangenheit schritt sie ständig über die Bühne. Irene Friedli war dazu die ideale Besetzung. Die Entourage Montfortes bestand aus den französischen Adligen und Offizieren Bethune (Jonas Jud), Vaudemont (Brent Michael Smith), Danieli (Raúl Gutiérrez), Roberto (Stansilav Vorobyov) und Tebaldo (Omer Kobiljak), welche stimmlich allesamt blendende Figur machten und darstellerisch die Inkarnation des abartigen Männerbildes des Regisseurs waren. Wie sie sich zu Beginn ein erst in Plastikfolie gehülltes und dann ausgepacktes Vergewaltigungsopfer von Mann zu Mann reichten – wie eine Trophäe aus einer Sammlung – war einfach nur grausam und abstoßend, aber wahrscheinlich auch aktuell ein Ritual von durch den Krieg pervertierter Männer (z.B. die Hamas am 7. Oktober 2023). Die Wankelmütigkeit solch williger Gefolgsleute zeigte Bieito mit aller Krassheit am Ende: Während des nur 30 musikalische Sekunden dauernden Gemetzels der „Sizilianischen Vesper“ erkennen sie sofort, dass sich die Waagschale zu ihrer Ungunst neigt und schlagen sich umgehend auf die Seite der Aufständischen. Sie sind die ersten, welche sich auf ihren ehemaligen Anführer Monforte stürzen und ihn mit ihren Dolchen dahinmetzeln. Maximilian Lawrie (Manfredo) war in der Minirolle des Begleiters Procidas zu erleben.

Das Dirigat übernahm Ivan Repušic, der die Philharmonia Zürich erstmals leitete und sie mit aufpeitschender Verve, zügigen Tempi (zu Beginn bei der ersten Chorszene vielleicht etwas überhastet) und schön herausgearbeiteten solistischen Passagen durch den inklusive Pause dreieinviertel Stunden dauernden Abend führte.

Kaspar Sannemann, 13. Juni 2024


I vespri siciliani
Giuseppe Verdi

Oper Zürich

9. Juni 2024

Regie: Calixto Bieito
Dirigat: Ivan Repušic
Philharmonia Zürich