Zürich: „Iphigénie en Tauride“

Obwohl Christoph Willibald Gluck als grosser Opernreformator in die Musikgeschichte einging, gehören seine Werke leider höchstens zum erweiterten Standardrepertoire der Opernbühnen, vielleicht mit Ausnahme von ORPHÉE ET EURYDICE, seiner zweiten französischsprachigen Reformoper. Mit der Neuproduktion von IPHIGÉNIE EN TAURIDE (letzmals in Zürich 2001 zu sehen gewesen mit William Christie am Pult, Regie: Claus Guth, mit Juliette Galstian, Rodney Gilfry und Deon van der Walt) lieferte das Opernhaus Zürich gestern Abend nun ein gewichtiges Plädoyer für den zu Unrecht vernachlässigten Komponisten Gluck und zeigte exemplarisch, warum seine Reform so wichtig war für die Entwicklung des Musiktheaters: Expressivität, tiefe Durchdringung des Textes, Befreiung von (für die psychischen Befindlichkeiten der Protagonisten) unnötigem Zierrat, Durchgestaltung in ganzen Szenen, gar Akten, anstelle von kleingliedriger Trennung in Rezitative und unendlichen Da capo – Arien. In dieser Zürcher Fassung von 2020 nun werden gar die Akte aufgehoben, kein Zwischenapplaus soll die albtraumhafte Handlung unterbrechen, die vier Akte werden deshalb logischerweise pausenlos gespielt und so erhält diese Oper eine ungeheure Sogwirkung.

Diese Wirkung wird durch die phänomenale Bühne und Ausstattung von Michael Levine kongenial unterstützt. Der tiefschwarze, sich nach hinten stark verengende Tunnel, am Portal begrenzt durch einen kaltweiss leuchtenden Rahmen, erhält ein faszinierendes Eigenleben, da immer wieder Brüche sichtbar werden, durch die kaltes Licht eindringt, welches zu beängstigenden und verstörenden Lichteffekten führt (Lichtdesign: Franck Evin). Doch genauso schnell wie diese Spälte in den Wänden, der Decke und dem Boden auftauchen, verschwinden sie auch wieder; lautlos und die Bühne in vollkommene Schwärze tauchend. Grosse Klasse! Nach seinem Bühnenbild zu WOZZECK (die Wiederaufnahme steht im Februar an!) erneut eine meisterhafte Arbeit von Micheal Levine. In diesen optischen Albtraum hinein inszeniert nun Andreas Homoki die Handlung dieses letzten Abschnitts des Atridenfluchs . Die brutale Historie des FLUCHS DER ATRIDEN liest sich ja wie das Drehbuch zu einem Splatter-Movie (siehe weiter unten!), doch Homoki verfällt natürlich nicht der blutigen Nachzeichnung der Vorgeschichte, sondern geht sehr subtil vor, indem er die utopischen und die schrecklichen Träume der letzten Nachkommen Agamemnons durch hell gewandete Darsteller – in einem Meer von schwarzen Kostümen – nachspielen lässt. Da ist u.a. Klein-Oreste zu sehen, welcher die Ermordung seines Vaters durch seine Gemahlin Klytämnestra mitansehen muss und Klytämnestra, welche die (vermeintliche) Opferung ihrer Tochter durch Agamemnon nicht verkraftet. Immer wieder scheint aber auch das Ideal der glücklichen Familie auf: Wie schön hätte doch alles sein können am Hof zu Mykene, hätte nicht dieser verdammte Fluch auf dem Geschlecht gelastet, diese Spirale von Krieg, Frauenraub und Gewalt. Ganz besonders überzeugt bei Homokis Ansatz, dass er die Dea ex Machina, die Göttin Diana, mit Klytämnestra gleichsetzt. So sind ihre Worte am Ende der Oper, wo sie Orest von der Schuld des Muttermordes freispricht, eben ein direktes Verzeihen der Mutter, eine Vergebung, welche ihn von seinen Dämonen (Eumeniden) erlöst und ihn wortwörtlich in eine lichte Zukunft schreiten lassen.

Die konzentrierte Glucksche Musiksprache und die anspruchsvolle szenischen Umsetzung erfordern selbstredend exzellente Sängerdarsteller – und die stehen dem Opernhaus für diese sehenswerte Neuproduktion zur Verfügung. Natürlich wurde diese Oper rund um Opern-Superstar Cecilia Bartoli angesetzt, welche seit über dreissig Jahren auf dieser Bühne zu Hause ist, aber nun zum ersten Mal mit dem Intendanten Andreas Homoki als Regisseur zusammenarbeitet. Cecilia Bartoli verschreibt sich wie stets mit Haut und Haar der Interpretiation der schwierigen Rolle der Iphigénie (sie sang sie zum ersten Mal 2015 in Salzburg), begeistert mit ihren wie stets frappierend ausdrucksstarken Piani, mit der Expressivität in den Szenen, mit einer bewegenden Schlichtheit der Interpretation, welche ohne effekthascherische Mätzchen auskommt, stets ehrlich ist und der Charakterisierung dient. Natürlich gab es auch Momente – z.B. in der Sturmszene zu Beginn – wo man sich in der Höhe etwas mehr Durchslagskraft gewünscht hätte. Doch Frau Bartoli ist natürlich klug genug zu erkennen, wo die Grenzen ihres Volumens liegen und diese Grenzen nicht durch unmässiges Forcieren zu strapazieren. Bei den tiefen Männerstimmen hingegen musste man beileibe nicht um mangelnde Durchschlagskraft bangen: Sowohl Stéphane Degout als Oreste als auch Jean-François Lapointe als Thoas (er spielte auch den Agamemnon in den pantomimischen Erscheinungsszenen) verfügen über wohlklingende, voluminöse Baritonstimmen. Stéphane Degout gibt glaubhaft den lebensmüden, weil von Schuldgefühlen (Eumeniden) geplagten, Muttermörder Oreste. Immer wieder wird in Opernführern kolportiert, IPHIGÉNIE EN TAURIDE verfüge über keine Liebeshandlung. Selbst Uwe Schweikert schreibt dies im Programmbuch. Das stimmt jedoch nicht – und Andreas Homoki hat das sehr wohl erkannt: Es gibt keine heterosexuelle Liebesgeschichte, klar, sehr wohl jedoch eine homoerotische, nämlich die Beziehung zwischen Oreste und seinem Jugenfreund und Cousin Pylade. Eine Beziehung voller Zärtlichkeit und aufopfernder Liebe, wo jeder für den andern das Leben geben würde. Homoki hat das sehr behutsam und feinfühlig inszeniert – berührend bis zum zärtlichen Kuss.

Frédéric Antoun begeistert als sensibler Pylade mit jeder Phrase mit seiner wunderschön timbrierten Tenorstimme, verfügt über all die notwendigen Farben, um seiner unendlichen Liebe zu Oreste Ausdruck zu verleihen. Aufhorchen lässt in dieser leicht gekürzten Zürcher Fassung Katia Ledoux als Femme Grecque – sehr erfreulich, dass man diese kurze Szene belassen hat. Stark singt auch der Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Janko Kastelic), insbesondere die Damen wissen mit der Schönheit des Klangs zu begeistern – optisch sind sie eine bedrohliche Masse aus gebauschter schwarzer Seide und Schleiern. Selbst die Hälse sind schwarz zugeschminkt, nur manchmal, wenn sie die Schleier lüften, sind die weiss geschminkten Gesichter zu sehen. Unheimlich.

Unheimlich gut spielt das hauseigene Barockorchester LA SCINTILLA unter der behutsamen Leitung von Gianluca Capuano, welches mit atmosphärisch dichten Naturschilderungen (Sturm) aufwartet, aber auch die fahlen Klänge in einem Klangbild von wunderbar austarierter Transparenz herausstreicht und so aus dem leicht erhöhten Graben Entscheidendes zur Charakterisierung des Unterbewusstseins der Protagonisten beiträgt und die Oper eben auf die hohe Stufe in der Musikgeschichte stellt, auf die sie zweifelssohne gehört.

Doch was passiert eigentlich mit Iphigénie nach dem vermeintlichen lieteo fine ? Die Göttin Diane (gesungen von Brigitte Christensen mit wunderschönem, spannend timbriertem Sopran) rät Oreste zwar, er solle seine Schwester dem „staunenden Griechenland“ zurückbringen. Doch Oreste schreitet in Homokis Lesart alleine dem Licht entgegen. Iphigénie hingegen – nach einem beunruhigenden Nervenzusammenbruch – steht auf und zieht sich erneut den Schleier über den Kopf, verschwindet in der schwarzen Masse der anderen Frauen. Vielleicht will sie mit dieser barbarischen Männerwelt nichts mehr zu tun haben, nachdem sie selbstbestimmt den Kreislauf von Kannibalismus, Opfer und Mord durchbrochen hatte?

Fazit: Ein starker Abend! – Auch wenn Gluck nicht wie im ORFEO ED EURIDICE mit einem Wunschkonzerthit (Reigen seliger Geister) aufwartet, dafür mit eindringlicher psychologischer Differenzierung in der Gestaltung der Hauptpartien und im Orchester. Vom Inszenierungsteam grandios und beklemmend umgesetzt. Empfehlenswert!

P.S.: Brigitte Christensen, die Sängerin der Göttin Diane und als Klytämnestra praktisch den ganzen Abend hindurch stumm auf der Bühne anwesend, wird in den letzten vier Vorstellungen die Titelrolle von Frau Bartoli übernehmen. Auf ihre Interpretation darf man sehr gespannt sein. Am 24. Februar werde ich an dieser Stelle darüber berichten!

Bilder (c) Monika Rittershaus

Kaspar Sannemann 4.2.2020