Schwer zu sagen, was am schönsten war: die extrem lyrischen Arien im Polifemo oder im Arien-Abend mit Franco Fagioli? Die Zugabe von Simone Kermes: Sag mir, wo die Blumen sind? Die Entdeckung bis dato unbekannter oder fast unbekannter Komponisten wie des bayerischen Kurfürsten Maximilian II Joseph oder des Bayreuther Hofkapellmeisters Johann Pfeiffer, der in Bayreuth selbst bislang nicht angemessen gewürdigt, also so hinreißen aufgeführt wurde, wie wir‘s diese Woche im Markgräflichen Opernhaus hörten? War es die Wiederaufnahme der von Max Emanuel Cencic und seinen Mitstreitern im Jahre 2020 aus der Versenkung geholten Oper Nicola Porporas, also Carlo il Calvo? War es die konzertante Wiederentdeckung einer anderen Porpora-Oper, Polifemo, die das Publikum begeisterte? Oder ein hervorragender Judas Maccabäus? Oder Bachs Chaconne, gespielt von der erstklassigen Olga Watts? War die zweite Auflage des Festivals Bayreuth Baroque, so betrachtet, nicht eine einzige Kette von wunderschönen musikalischen Erlebnissen, die den Zuhörern und den Zuschauern der inszenierten Oper eine enorme Fülle an Barock-Stilen und -tonarten bescherten?
Abgesehen vom Reichtum der neun Programme mit ihren großen und immer bemerkenswerten „kleinen“ Stücken sind es nicht zuletzt v.a. der Raum des Opernhauses und des Sonnentempels der Eremitage (in dem Maddalena del Gobbo mit ihrer Viola da Gamba, einem der schönstklingenden Instrumente des 17. und 18. Jahrhunderts, ein Dinner-Konzert bereicherte), die aus dem Festival ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Malerei, Musik und Theater machen. Das Markgräfliche Opernhaus, als einzigartiger Theaterbau zurecht ein UNESCO-Kulturerbe, so zu nutzen heißt, es optimal zu bespielen: mit musikalisch herausragenden Ensembles und Sängern, die eine alles andere als alte Musik in die Gegenwart bringen; die Reaktionen des Publikums waren da stets eindeutig. Außerdem kann sich das Festival jetzt schon damit rühmen, dass es die Lebensfähigkeit von großen Opern zweier Komponisten, von denen wir bis vor wenigen Jahren nur die Namen kannten, in äußerst vitalen Aufführungen bewiesen. Die beiden Neapolitaner Nicola Porpora und Leonardo Vinci, deren Bedeutung erst durch die Aufführungen von Cencic und anderen Künstlern offenbar wurden, gehören also nicht mehr zu den „durchschnittlichen“ Barockoperkomponisten – der Ruhm der einstmals Vielgespielten erstrahlt nun auch dank des Bayreuth Baroque, seiner Sänger und Musiker, in neuem Glanz.
Dass nur wenige Bayreuther selbst den Weg in die Konzerte und Opernaufführungen fanden ist hingegen völlig normal – und für Bayreuth, betrachtet man es einmal von der touristischen Warte, kein Nachteil, sondern ein Pluspunkt. Der harte Kern der Bayreuther Musikfreunde, die sich für die herrliche (Theater-)Musik jener Epoche zu begeistern vermögen, die die Existenz des Hauses erst ermöglichte, ist so klein wie der der wirklichen Bayreuther Wagnerianer – und auch Wagner, das sollte bei allen Diskussionen nicht unterschlagen werden, hat sein Festspielhaus nicht für die Stadtbewohner, sondern für das gesamte „Volk“ erbauen lassen. Auch in diesem Jahr konnte man wenigstens einige Franzosen im Publikum erspähen; nach Corona werden die internationalen Freunde der großen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die uns immer noch viel zu sagen hat, wieder nach Bayreuth strömen; 2020 hatte man es bereits gesehen. Nebenbei: Man erwies auch dem genius loci seine Reverenz, als Dorothee Oberlinger und ihre Musiker und das Ensemble {oh!} Orkiestra Historyczna sich auch der lokalen Komponisten Pfeiffer und Falckenhagen annahmen, um neben ihrer Güte (die sich nicht aus Notendrucken und alten CD-Aufnahmen, sondern allein aus den Aufführungen ergibt) die Gleichzeitigkeit der Bayreuther mit der sonstigen Barockmusik überraschenderweise höchst eindrucksvoll zu belegen. Man darf sicher sein, dass die Dramaturgie der dritten Auflage des Festivals auch darauf wieder Rücksicht nehmen wird. Es wäre schön, wenn sich der Lokalpatriotismus der Bayreuther – insbesondere der Bayreuther Politiker – auch darin äußerte, dass sie dem Ereignis Bayreuth Baroque zukünftig ihre tätige Aufmerksamkeit erweisen würden.
Schon im zweiten Jahr des Festivals hat sich das Festival einen überregionalen Ruf erworben, der es möglich machte, dass die wunderbare Carlo il Calvo-Inszenierung des Intendanten, Sängers und Regisseurs in Personalunion, also Max Emanuel Cencis, nicht allein auf Youtube zu sehen ist und als DVD produziert wurde, sondern vom Internetportal Forumopera mit einer Zustimmung von knapp 40 Prozent zur besten Opern-Neuinszenierung des Jahres 2020 gewählt wurde. Noch während Bayreuth Baroque lief, wurde im Bayerischen Rundfunk Vincis Polifemo ausgestrahlt und kurz danach als Videostream zur Verfügung gestellt. Zwei weitere Konzerte wurden live übertragen, im sonntäglichen Tafel-Confect Musik aus diversen Programmen gespielt, schließlich eine Sendung mit Höhepunkten gebracht: so wie schon 2020. Die Welt ist also fleissig dabei, wenn die Bayreuther Festspiele über den Äther gehen: nicht allein aus dem anderen Haus.
Also: Wer zukünftig von den Bayreuther Festspielen redet, könnte leicht mitdenken, dass es neben dem Haus auf dem Grünen Hügel ein zweites gibt, das endlich wieder auf die beste Art und Weise befestspielt wird – würdig dem außerordentlichen Rang, der durch den Welterbe-Titel nur bestätigt wurde.
Frank Piontek, 13.9.2021