Bayreuth: Bayreuth Baroque: Franco Fagioli

Markgräfliches Opernhaus, 10.9.2021

Pomp und Pathos

Der Abend wäre noch schöner, ja: er wäre völlig gelungen, würde man spätestens in der Pause die offenbar völlig unmusikalischen und gegenüber jeglichen lyrischen Effekten tumbtauben Toren aus dem Saal schmeissen, die immer dann, wenn die letzten Klänge besonders schön austönen, ihr brutales „Bravo!!“ in Richtung ihres angebeteten Sängeridols zu brüllen pflegen. Wieso nur (fragt sich der Musikfreund) wissen und spüren sie nicht, dass die doch nur wenige Sekunden dauernde, herrliche Pause zwischen dem letzten zart ausklingenden Ton und dem Beifall unabdingbar zum Eigentlichen: eben der Musik, gehört? Wieso nerven sie alle anderen Zuhörer, die sich gerade in die Seligkeit einer lyrischen Arie vom Schlage „Gelido in ogni vena“s begeben haben, um sie um das Vergnügen zu bringen, auch noch die letzten Nuancen der Musik zu geniessen? Warum, fragt man sich von Neuem, haben diese Kerle das nötig? Welches Problem haben sie mit der Musik, dass sie sie zerstören? Und warum gehen sie in ein Konzert, wenn sie nicht begriffen haben, dass das Schönste nicht in, sondern zwischen den Noten liegt?

Genug der Schelte, denn der Sänger (anders als die Männer im Parkett kein Schrei-, sondern ein Schönhals) und die Instrumentalisten, die den Recital- und Concerto-Abend im Markgräflichen Opernhaus glanzvoll gestaltet haben, können nichts für ihre „Freunde“. Eigentlich (und uneigentlich) hätte das Programm auch „Vinci / Metastasio-Gala“ heißen können, denn ausnahmslos alle Arientexte, die wir an diesem langen Abend hörten, wurden vom Librettofürsten des 18. Jahrhunderts geschrieben, dessen Texte noch bis ins frühe 19. Jahrhundert zu den Opernversen gehörten, die immer wieder, von den größten und den kleinsten Komponisten vertont wurden. Franco Fagioli, den man gerade erst wieder in Porporas Carlo il Calvo erleben konnte, gehört zu den wichtigen Counters, Falsettisten, Altisten bzw. Sopranisten des Festivals – mal neigt seine Stimme mehr zum höchsten Bereich, mal bewegt er sich im tieferen Altusgebiet. Das Programm führt die Linie fort, die 2020 mit der konzertanten Aufführung des Gismondo, re di Polonia begonnen wurde: man widmet sich einem prägenden neapolitanischen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der noch vor Johann Adolf Hasse, dem Komponistenabgott der Epoche der Opera seria, die Gattung miterfand. Porpora ist sein Landsmann und Mitstreiter auf einem Terrain, das die Oper in entwickelten Variationen einen Schritt in die Zukunft weiterbringt; die Variationen, die im Programmhefttext erwähnt werden, beziehen sich auf die individuellen Ausgestaltungen der Arien durch die Sänger, können aber mit gleichem Recht auf die Veränderungen bezogen werden, die durch Meister wie Vinci und Porpora in die Geschichte der Oper gebracht worden sind: denn die „Barock-Oper“ ist ein äußerst vielfältiges Genre. Hören wir also Fagioli und die Armonia Aeterna unter George Petrou mit Arien aus der Seremida riconiusciuta, dem Gismondo, dem Siroe, aus Medo, Catone in Utica und Artaserse, so hören wir eine Arien-Suite in Kontrasten. Lyrik und Agitation, Schrecken und Freude, Largo und Allegro, Pomp und Pathos binden sich aneinander wie an eine Kette, nur unterbrochen durch zwei Händel-Concerti und eingeleitet und kurz vor Schluss akzentuiert durch ein herrliches Grave aus der Sinfonia zu Artaserse. Der „terrore“ dieses Abends liegt, auch wenn er in der charakteristisch zitternden Schreckens-Arie „Gelido in ogni vena“ aus dem Siroe mit den typischen Wiederholungen der grundlegenden Doppelachtelnoten beschworen wird, nicht beim Sänger, sondern bei den Störern – reiner Wohlklang entströmt Fagiolis Kehle, die Solo-Kadenzen kommen wie geölt, als wären sie eine Entsprechung zu den beiden weichen Traversflöten und der sanften Oboe, die im Largo von Händels Concerto grosso HWV 312 bzw. im zweiten Satz von HWV 313 ihre Töne in den Saal entlassen. Barock-Belcanto at its best. Pauken und Trompeten begleiten den Helden, aber schöner ist das Duett, in das er sich mit dem Oboisten begibt, als es gilt, in „Sento due fiamme in petto“ (aus Medo) die süßen Qualen der Sehnsucht zwischen einer alten und einer neuen Liebe zu besingen; das anfängliche „Sento“ klingt bei Fagioli mezzavocissime übrigens länger als ein gewöhnlicher Wälse-Ruf… Und die Flöten, die in der pastoralen Vogel-Arie „Quell‘usignolo ch‘è innamorato“ aus Gismondo die Fiorituren des Sängers umflirren, zeigen uns schon in der ersten Vokalnummer des Abends, dass Leonardo Vinci ein exquisiter Komponist war.

Drei Zugaben, darunter eine Arie aus Händels Pastor fido und „Scherza infida“ aus Händels Ariodante – der Sänger wurde zufrecht gefeiert und dies nicht allein deshalb, weil die Koloraturen ihren rechten Stimmsitz hatten, sondern weil die Lyrik noch in den langen Vokallinien der „Kofferarien“ zu betören vermochte.

Im Gegensatz zum Gegröhle der sog. Fans.

Frank Piontek, 11.9.2021

Foto: Andreas Harbach