Premiere: 6.6.2018., besuchte Aufführung: 8.6.2018.
Erst vor einigen Tagen war „Il ritorno d’Ulisse in patria“ im Nürnberger Staatstheater zu erleben. Nun folgte die Musica Bayreuth mit einer auf ihre, ganz eigene Weise fulminanten Aufführung des „Orfeo“, also von Monteverdis Opernopus 1, das alles, was im Jahrzehnt vor 1607 an italienischem Musiktheater auf die Bühnen oder in die Kammern kam, zur Bedeutungslosigkeit verurteilte. Leitete sich auch die „Favola“ des Mantuaner Kapellmeisters und seines Librettisten Alessandro Striggio d.J. – wie die Werke Caccinis und Peris – im Prinzip von den Pastoralen ab, die die Renaissance so liebte, so erfand er auf einen Schlag die Gattung, die seit gut vier Jahrhunderten als „Oper “ bekannt ist.
Auch das Gastspiel des J.K. Tyl Theaters Pilsen, das im Markgräflichen Opernhaus den „Orfeo“ bringt, hat es (im spätbarocken Haus) mit einem Schäferspiel zu tun, doch mit einem höchst artifiziellen. So ungefähr könnte man sich, leicht abstrahiert, die Ludi und Intermedien mit ihren allegorischen und typisierten Figuren vorstellen, die zur Zeit Monteverdis und des wahren Shakespeare Edward de Vere, der kurz zuvor gestorben war, modern waren. Um die „Fabel in Musik“ auf die Bühne zu bringen, bedarf es nur jeweils rechts und links vierer von außen beleuchteter, gelegentlich sich im Wind bewegender bühnenhohen Tücher, die im Augenblick der Todesnachricht sinnfällig zu Boden fallen, einer weißen rückwärtigen Leinwand, viel Lichtstimmungen – und eines Ensembles, das sich ruhig, doch nicht statuarisch bewegt.
Vermutlich hat man sich auch 1607 nicht so wild über die Bühne geschleudert, wie wir es vom modernen Theater her kennen. Verwechslungen mit dem langsamen Schreiten, das erst jüngst wieder in der Prager Rekonstruktion der Lohengrin-Inszenierung Wolfgang-Wagners so unangenehm auffiel, sind ausgeschlossen. Im lichtdramaturgisch genau durchgearbeiteten Raum Daniel Dvořáks begreift man schnell, dass die Geschichte des Sängers, der ins Totenreich hinabsteigt, um seine Gattin ins Reich des Lichts heraufzuholen und dabei schmählich scheitert, um schließlich vom Kunstvater Apoll als ewiges Gestirn in den Himmel transferiert zu werden, mit den gezügelten Schritten Sinn macht.
Natürlich kann man die Geschichte auch quasi realistisch erzählen, aber im Rückgriff auf die historische Ästhetik der Spätrenaissance gewinnt Monteverdis Werk an reizvoller Farbe. Langweilig ist die Aufführung auf keinen Fall – und dies schon deshalb nicht, weil der Regisseur Tomáš Pilař den Choreographen Martin Šinták (der auch den Charon, im Gegensatz zum wie Fafner singenden Caronte, tanzt) eingeladen hat; die vier hübschen Frauen, die die Handlung begleiten, tanzen so antikisch, wie man es sich vor etwa 100 Jahren vorgestellt hat. Zu den Höhepunkten der Aufführung gehört daher die Konfrontation dieser moderneren Ausdruckswelt mit dem höfischen Tanz der Renaissance: die jungen Damen umtanzen Orfeo und Euridice, die sich im Hochzeitsfest des ersten Aufzugs zeremoniell umeinander drehen.
Schön sind auch die Silhouetten, die das Licht (Daniel Tesař) ausschneidet, wunderbar ist die Stimmung, wenn hinter dem duettierenden Liebes- und Hochzeitspaar die Hirten, zart beleuchtet, hinter dem Gazevorhang stehen und später die Nacht sich in die Unterwelt senkt, in der der Fährmann sich hinter einem bootshohen, bühnenbreiten Schleier im Fluss der Unterwelt vor Orfeos Gesängen windet, um schließlich von eben diesen eingeschläfert zu werden. Großartig der Gang in den hades: eine symmetrisch ausgerichtete, von den verstärkten Chören und den Trommeln eindrucksvoll akkompagnierte Todes- und Videofahrt durch die Unterweltsgewölbe einer Theaterarchitektur der Renaissance. Kommt hinzu, dass alle Personen einen kleinen weißen, also marmorimitierenden Kopf auf ihren eigenen Köpfen tragen: ein fast surrealer, doch sinnvoller Einfall, denn in dem Moment, in dem die „Messagiera“ Sylvia der Feiergesellschaft die Nachricht vom Tod der frisch Verheirateten bringt, bringt sie ihnen zugleich den kleinen Kopf, den Euridice vorher trug: ein Symbol, zugleich etwas sehr Reales – das Sterbliche, das gleichzeitig an das antike Vorbild erinnert, dem diese Figur im Jahre 1607 und noch heute ihre Existenz verdankt(e).
So ergibt sich aus den Bewegungen, den Figuren und dem schlichtschönen Licht eine Mixtur aus „edler Einfalt“ und „stiller Größe“, wobei die Betonung auf „edel“ und „still“ liegt. Auch so kann eine Spielart des sog. Regietheaters aussehen. Schön war ja schon der Beginn: mit der kostümlich luftigleicht gefassten Frau Musica, die, begleitet von ihren vier schönen Damen, die folgende bekannte Geschichte, freilich inhaltlich seltsam unscharf, ankündigt. Und, ja, die Geschichte wirkt immer noch: dank Monteverdis Genie und dank der mit fantasievollen Bildideen ausgestatteten Ernsthaftigkeit, mit der die Geschichte erzählt wird. Denn problematisiert werden kann sie gewiss; nur verzichten die Pilsener darauf, den Orfeo aufgrund seiner haltlosen Affekte zu kritisieren und den Apoll zum autokratischen Egomanen zu machen. Hier ist tatsächlich alles Schein – SCHÖNER Schein. So betrachtet, sind wir im Herzen der Gattung Oper angelangt.
Es ist freilich letzten Endes die Musik, die die Geschichte in dieser historisierenden, doch zugleich erst durch die modernen Möglichkeiten der Technik realisierbaren und durchaus reflektierten Lesart legitimiert. Vojtĕch Spurný leitet das Ensemble von 18 Musikern, die Monteverdis reiche Partitur facettenreich neuerfinden – denn Monteverdi hat in seinem sparsamen, auf die Sing- und die Bassnote reduzierten Notentext nur Hinweise, freilich auch eine ausführliche Instrumentenliste gegeben. Dem alten Instrumentarium hat man einen Regenmacher beigegeben, der die Caronteszene akzentuiert. Reichlich zu tun hat die Barockharfe (engagiert gespielt von einer Musikerin mit dem schönen Namen Marie-Domitille Murez), auch, aber nicht nur zusammen mit der Theorbe. Orgel, Regal und Cembalo gehören neben den Streichern und wenigen Holzbläsern heute selbstverständlich in ein Orfeo-Orchester, um die Sphären der Welt (die Pastorale) von der Sphäre der Unterwelt (des Tartarus) abzugrenzen. Die Toccata, also die musikalische Visitenkarte der Gonzagas, wird, das ist schon beeindruckend, mit dem Einzug zweier Trommler in den Zuschauersaal gemacht. In der Pause werden sie dann mit den Bläsern auf dem Balkon des Opernhauses stehen, um das Ende derselben anzukündigen. So schaffen die Musiker einen Klang, der zwischen Gestern und Heute vermittelt, ohne das „Alte“ als alt und das „Neue“ als Stilbruch empfindbar zu machen. Die Koloraturen werden eher vorsichtig improvisiert; die einzig von Monteverdi notierten Auszierungen der Preghiera Orfeos „Possente spirto“ werden gesungen. Orfeo ist ein Bariton, Apoll ein tiefer Tenor, die geflügelte Hoffnung ein Altus, Proserpina und Plutone aber sind Counter, die, das ist so absurd wie gruselig, als ewige Symbole ihrer Totenfunktion jeweils ein Totenbett dort mit sich ziehen müssen, wo andere Götter ihr Hinterteil haben: als Kentauren der Nacht und der Trauer. Der Tod war schon im zweiten Akt durchs Bild gelaufen – am Ende aber, wenn die Nymphen und Hirten langsam nach hinten gehen, um den vergöttlichten Sänger zu preisen: „E chi semina fra doglie…“ – „Und wer unter Schmerzen säet, erntet die Frucht mit allem Gewinn“. Wir haben den Bibelspruch ja schon vor Beginn der Oper auf dem Vorhang gelesen. Was bleibt, ist die trauernde Euridice: eine Gestalt in Schwarz, eine Anklage an alle, die zu schwach waren, das göttliche Gebot der Affektbeherrschung einzuhalten.
Da ist die Oper so modern, wie sie immer war: ein Mythos, der in den Bildern des Pilsener Theaters zwischen der Antike, der Renaissance und dem ewig Gültigen bildschön vermittelt wird.
Großes Lob also für den empfindsam timbrierten Orfeo des Lukáš Zeman, für die angemessen wohlklingende Musica und Euridice der Karolína Janů, die ergreifende Botin der Kristýna Vylíčilová, die Speranza, Proserpina und das Echo des Jan Mikušek, den Apollo des Jaroslav Březina und den Plutone und Caronte des Aleš Procházka und die weiteren 4 Sänger. Obwohl sie hier erst am Ende genannt werden, tragen sie die Aufführung mit vokaler Schönheit und deklamatorischer Genauigkeit. Franken im Monteverdi-Glück – so könnte man zwischen Nürnberg und Bayreuth diese Opernwoche charakterisieren.
Fotos © Andreas Harbach
11.6.2018