Erste Frage: Wie viele Noten benötigt ein Stück, um Musik zu sein? Antwort? Mindestens eine, höchstens eine. Zweite Frage: Wie viele Noten benötigt ein Pianist von Rang, um sein Talent zu beweisen? Diese Frage ist schon wesentlich schwerer zu beantworten. Umso seltsamer, dass Sandro Ivo Bartoli sein Programm, mit dem er die Klaviernacht des Bayreuther Festivals für Neue Musik 2023 in Steingraebers Kammermusiksaal eröffnet, als „anti-pianistisch“, als „Symphonik für Klavier Solo“ bezeichnet – denn kann es das geben: Musik für Pianisten, die nicht pianistisch organisiert ist?
Viele Fragen – eine Antwort: Wenn Bartoli, der Mann aus der Toskana, ein look-alike des reifen Liszt, am Klavier sitzt, werden die Fragen unwesentlich – und die Antworten spannend. Er hat uns schon öfters bei Steingraeber entzückt: mit „klassischen“ Programmen, also mit Chopin und Liszt, der seine Werke auch für ihn geschrieben hat. Nun sitzt er am großen Konzertflügel und bietet eine Trilogie von Jubilaren auf; allein der Zufall der Geburts- und Sterbejahre ermöglicht eine Folge von drei Komponisten mit denkbar unterschiedlichen Handschriften aus drei verschiedenen Stilepochen, die doch eng zusammenhängen. Wolfram Graf, der Direktor des Festivals, hat schon Recht, wenn er auf Rachmaninows Moderne hinweist, auch wenn dieser, bei uns nicht wirklich bekannte Meister eher durch „spätromantische“ Töne als durch eine Anbindung an die Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts bekannt ist. Schon der Begriff der „Spätromantik“ impliziert ja definitorisch denkbar Unscharfes. Also beginnt Bartoli den Abend mit dem Zyklus „Maschere che passano“ des Landsmannes Gian Francesco Malipiero. 1918 komponiert, schöpft die Suite aus der Fülle der seinerzeit unter Druck stehenden „Tonalität“ und der Moderne. Bartoli präludiert erst nicht, er bietet uns gleich den vollen Ton, die Tiefe eines voluminösen Klangapparats, kann aber auch das Motorische, das Furiose. Nicht allein im Vivacissimo, dem „Furiosamente“ überschriebenen Schlusssatz, zeigt er die vollkommene Beherrschung der technischen Mittel – wäre sie allein merkbar, wäre es ein interessanter, aber noch kein bannender Abend. Bartoli aber ist Musiker durch und durch, so dass er auch den Experimenten der 1951-1953 geschriebenen „Musica Ricercata“ György Ligetis einen Ausdruck „con fuoco“ abgewinnt, der vergessen macht, dass Ligeti zunächst etwas scheinbar Bizarres vorgelegt hat: Die elf Sätze folgen der Steigerung, indem der erste Satz einen, der zweite zwei, der dritte drei und schliesslich der elfte Satz über elf Töne verfügt. Spätestens ab dem fünften Satz, dem „Lamentoso“, das wie mittlerer Liszt klingt, füllt sich der Tonsatz mit jenem Volumen, das ein Laienhörer als „normal“ bezeichnen würde. Wie viele Noten benötigt ein Stück? Bei Bartoli genügt eine, die durch die Oktaven gespielt wird. Mittel und Ausdruck werden identisch, wo ein manischer Satz im Tempo di valse an Strawinskysche Barbarismen erinnert und ein langsamer, „zeremonieller“ Satz auf nur zwei Töne eben das „Rigide“ auszudrücken vermag. Es macht einfach Spaß, die Musik des Altmeisters der Moderne zu hören, wenn Bartoli sie mit Verve selbst dann mit Kraft erfüllt, wenn sie besonders leise angeschlagen wird. Ein hauchzartes Pianissimo ist bei Bartoli nämlich so intensiv wie ein dröhnender Forte-Akkord oder eine wilde Kaskade.
Muss der Hörer wissen, dass Rachmaninow mit seiner ersten Sonate op. 28 eine Faust-Sonate geschrieben hat? Dass er, wie Liszt (und Wagner in seiner projektierten Faust-Symphonie), den ersten Satz Faust, den zweiten, natürlich langsam-lyrischen, dem Gretchen und den dritten – natürlich ein Allegro molto – dem Mephisto gewidmet hat? Man muss es nicht wissen. Wenn im Finale immer wieder ein Ritt-Motiv ertönt, dient es als Kontrast, nicht als Teufelsgalopp, auch wenn‘s reizvoll sein mag, sich Faust und Mephisto durch die Welt eilend vorzustellen. Rachmaninow selbst hat das Problem der Form reflektiert; die Frage bleibt, wie sich eine Programm-Musik innerhalb der Sonatenform durchsetzen könnte. Hat man sich erst einmal von dem Gedanken verabschiedet, dass Musik – in besonderem Fall diese Sonate – konkrete Bilder malen muss, erweist sich das eigene Recht auch der Kunst eines Sergej Rachmaninow: die Musik spricht ohne Worte zu uns, zumal dann, wenn Bartoli sich vehement für den Ausdrucksgehalt dieser höchst bewegten Musik einsetzt.
Die Sonate gilt aufgrund ihrer schon äußeren Dimension von 35 Minuten Spieldauer und ihrer Intention als nicht übermäßig „gelungen“ – aber ob eine Musik „gelungen“ ist, entscheiden allein die Interpreten und ihre Zuhörer. Sie ist zunächst ein technische Herausforderung; wenn schnelle Triolen gegen sehr schnelle Sechszehntelketten gesetzt werden und daneben noch anderes zu hören sein sollte, weiss man, wie ein Pianist drauf sein muss, um das Monster erst einmal zu stemmen. Die Hauptsache bleibt bei Bartoli der Lisztsche Dreiklang von Poesie, Nonchalance und Kraft. „Anti-pianistisch“ ist die Sonate in dem Sinn, als dass der Komponist sich eher eine orchestrale als eine solistische Komposition vorstellte, wenn er auch vom Plan abstehen musste, die Noten zu orchestrieren, weil der Klaviersatz denn doch über weite Strecken rein pianistisch ist (gewiss: An sich kann man jedes Klavierstück instrumentieren, aber man muss es ja nicht). Was am Ende begeistert, ist Bartolis Vergegenwärtigung einer über 100 Jahre alten Musik als heutige. Gegen sie sieht manch „neue“ Musik nur alt aus. Also heftiger Beifall für einen Musiker und Pianisten, der die Musik der „alten Meister“ mit höchstem technischem Einsatz und mit Herzblut, mit Deutlichkeit und Versonnenheit in die Gegenwart zu bringen vermag.
Frank Piontek, 12. März 2023
Zeit für Neue Musik
Klaviernacht – Sandro Ivo Bartoli
Bayreuth
Steingraeber
11. März 2023