Mannheim: Sinfonie Nr. 9 D-Dur, Gustav Mahler

SWR-Symphonieorchester & Teodor Currentzis

Wie sehr hat sich Gustav Mahler vor der Zahl Neun gefürchtet! Würde seine erlahmende Lebenskraft ausreichen, um eine würdige 9. Sinfonie zu schreiben? Voller Ideen und kühner Einfälle war sein kompositorischer Geist. Sein „Lied von der Erde“ war bereits seine 9. Sinfonie, doch war diese Sinfonie für Singstimmen und Orchester ein Sonderwerk. Somit wurde die 1909 komponierte Sinfonie sein letztes vollendetes Werk. Die begonne 10. Sinfonie blieb als Torso unvollendet zurück. Mit ihr und der 9. Sinfonie, dem „Lied von der Erde“ schuf Mahler eine Trilogie des Abschiedes und der Endlichkeit, wie es kein anderer Komponist vermochte. Es ist der 9. Sinfonie anzumerken, wie intensiv und geschlossen Mahler an ihr gearbeitet hat.

Bereits der erste Satz führt den Zuhörer in die scheidende Welt tief hinein, die Mahler so unübertrefflich zu beschwören wusste. Über das Hauptmotiv schrieb Mahler die Worte „Leb wohl“. Und wie aus dem Nichts, aus einer anderen Welt, beginnt die Sinfonie mit einem Wechselspiel aus Cello und Harfe. Horn und Violine knüpfen mit einem intensiven Dialog an. Das Hauptmotiv wird durch alle Orchesterstimmen geführt. Gewaltige Ausbrüche, die wie seelische Aufschreie anmuten, kontrastieren mit innigen Ausdrucksmomenten, ehe dieser intensiv fordernde Satz leise verklingt.

Der zweite Satz wird oft mit einem Totentanz verglichen. Dieses verzerrte Scherzo wirkt in seinen gebrochenen Tanzrhythmen deutlich surreal. Mahler greift hier auf Walzer und Ländler parodistisch zurück. Kantable Momente werden von zahlreichen Disharmonien gebrochen, dann ist der Spuk vorbei.

Ein überragendes Beispiel seiner kontrapunktischen Fähigkeit schuf Mahler mit seinem dritten Satz, Rondo-Burleske. Schon die dissonante Einleitung in der Solo-Trompete erzeugt größte Aufmerksamkeit. In kaum einem anderen Satz seiner Sinfonien brachte Mahler derart viele Zitate und Fragmente aus seinen anderen Werken ein. Seltsam auch dann die choralartigen Momente in diesem Satz, die dem hektischen, chaotisch anmutendem Treiben Einhalt gebieten. In einer furiosen Stretta endet dieser extreme Satz.

Das finale Adagio gehört sicherlich zur ergreifensten Musik, die Gustav Mahler schrieb. Auch hier erklingen Zitate anderer Werke, vor allem aus dem „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“. Ein endloser Abgesang auf das irdische Leben, der in Transzendenz mündet und am Ende verklärend die Töne aushaucht. Mahler schrieb in seine Partitur „ersterbend“. Das Kindertotenlied „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen“ wird am Ende zitiert, ehe dann die Musik, die so sphärisch intensiv wirkt, sich auflöst.

Dirigent Teodor Currentzis schätzt Gustav Mahler als einen seiner Lieblingskomponisten. Nach der dritten und vierten Symphonie, präsentierte er mit seinem SWR Symphonieorchester eine außergewöhnliche Interpretation. Inzwischen sind er und sein Orchester deutlich spürbar miteinander verbunden. Currentzis ging auch hier wieder seinen ihm eigenen Weg der Extreme. Die Dynamik wurde ausgereizt, vor allem in den leisen Momenten des vierten Satzes, ebenso aber auch in den fast schon schmerzhaften Forteausbrüchen, die dann nochmals unermesslich gesteigert wurden. Herrlich schroff und grotesk seine artikulatorischen Übertreibungen, die er sich für den dritten Satz überlegt hatte.

Currentzis konnte sich auf sein hingebungsvoll musizierendes Orchester bestens verlassen. In großer Besetzung mit 70 Streichern (!) zeigte es hier, wie auch in allen anderen Instrumentalgruppen, formidable Leistungen. Die gold tönende Gruppe der Hörner musizierte ungemein ausgewogen und stets intonationssicher. Die Holzbläser trafen ausgezeichnet den grotesken Tonfall in den Mittelsätzen, während das warm tönende Blech so manchen agressiven Akzent beizusteuern wusste. Differenziert und erruptiv, wenn es gefordert war, ertönte das Schlagzeug. Die großartigen Musikerinnen und Musiker des SWR Sinfonieorchesters begeisterten mit einer Hingabefähigkeit in ihrem Ausdrucksbemühen, wie es selten zu erleben sein dürfte.

Natürlich hatte Currentzis bei diesem Konzert überlegt, wie das Dahinscheidende, das Ersterbende der Musik dem Zuhörer besonders intensiv nahegebracht werden könnte. Und so kam es im beschließeden Adagio dazu, das langsam das Saallicht herabgedimmt wurde, bis lediglich nur das Licht der Notenpulte zu sehen war. Der Lohn für diesen „Effekt“ war eine unendlich wirkende Stille nach dem Verklingen des letzten Taktes.

Ein großer Schatten lag allerdings auf diesem Konzert, weil Teile des Publikums fortwährend Gegenstände zu Boden fallen ließen und dazu mit brachialer, bronchialer Gewalt sich meinen aushusten zu müssen. Fassungslosigkeit und große Wut kann einen nur erfassen, wenn erwachsene Menschen, die vorgeben bei Verstand zu sein, sich derart respektlos aufführen, als hätten sie in ihrer Sozialisation nie einen Ansatz einer Erziehung erfahren. Offenkundig ist es bitter notwendig, das Publikum vor einem Konzert an seine Verantwortung zu erinnern. Die Stille gehört zum Konzert! Sie ist ein wesentliches Element für Konzentration und Kontemplation. Vor allem jedoch ist sie eine Geste des Respektes. Selbst in den langen stillen Minuten des verklungenen Schlusses, gab es noch Menschen, die derart laut husteten, sich fast (pardon!) auskotzten, als gäbe es kein Morgen mehr! Eine Schande ohnegleichen! Die Konzertveranstalter sollten entsprechende Hinweise im Programmheft formulieren und Benimmempfehlungen im Konzertfoyer anbringen. Aber vielleicht ist es auch notwendig, vor dem Konzertbeginn, den Besuchern 10 Sekunden mit schlimmen Hustern vorzuspielen, um sie zu sensibilisieren.

Die zahlreichen Zuhörer an diesem ausverkauften Konzertabend dankten mit ausdauernden Ovationen.

Dirk Schauß, 23. Dezember 2019

Karikatur von unserem Opernfreund-Zeichner (c) Peter Klier