Dresden: „4:48 Psycho“, Philip Venables

Als die Besucher der Wiederaufnahme-Vorstellung der Kammeroper „4.58 Psycho“ den Zuschauerraum der Studiobühne „SEMPER ZWEI“ betraten, fanden sie die sechs Sängerinnen des Abends ziemlich locker auf einem grauen Sofa drapiert. Sie musterten die Einströmenden, um zu sehen, wer sich die Komposition Philip Venables und die Inszenierung von Tobias Heyder nach der Vorlage von Sarah Kane antuen wird.

© Ludwig Olah

Eine der radikalsten, kontroversesten Dramatikerinnen der skandalträchtigen  zeitgenössischen Theaterszene war Sarah Kane (1971-1999). In ihrer kurzen Schaffenszeit schrieb sie fünf, durch Verfremdungen von Realitäten und symbolisiertes  Geschehen gekennzeichnete Stücke. Ihre erste Arbeit „Zerbombt“ war durch eine schonungslose, unverhüllte Darstellung physischer und psychischer Brutalität oder Grausamkeit beherrscht. Die Personen waren auf ihre Instinkte reduziert. In den folgenden Werken Kanes gewinnen sie eine Menschlichkeit, wenn auch ironisch mit einem  begrenzten Optimismus versehen. Ihre Wendung von den Brutalitäten war aber offenbar ein Rückzug in eine „weibliche“ Schreibweise.

In ihrem letzten Stück „4:48 Psychosis“ nutzte Sarah Kane ihre reichen stilistischen Möglichkeiten zur literarischen Verarbeitung einer psychischen Erkrankung. Sie selbst litt unter psychotischen Schüben, die mehrfach Klinikaufenthalte erforderten und letztlich, nach vergeblichen Anläufen, zu ihrem Suizid führten. Die Literaturwissenschaftler tun sich schwer, ob die von drei Schauspielerinnen gestalteten vierundzwanzig Szenen der bitteren Meditationen über das Wesen von Depressionen und der Sinnlosigkeit psychiatrischer Therapien im „4.48 Psychosis“ eine Reflexion ihrer eigenen Leidensgeschichte war. Auch, ob jene Glücksmomente, wenn am „Morgen um vier Uhr 48 die Klarheit des Seins vorbei schaut“, nämlich wenn die Wirkungen der Medikament nachlassen und die Einnahme der Folgedosis noch aussteht, autobiografisch waren, wird von Schulmedizinern in Frage gestellt.

Der britische Komponist Philip  Venables, geboren 1979 im englischen Nordwesten, hat sich, sensibilisiert 2016 den Texten der Sarah Kane empfindsam  genähert. Zu einer Wiederaufnahme der deutschen Uraufführung von „4.48 Psychose“ des Jahres 2019 war Philip Venables am 16. März 2023 nach Dresden gekommen und stand nach der Vorstellung zu einem Nachgespräch zur Verfügung.

© Ludwig Olah

Für die 2019-er Inszenierung auf der Studiobühne  der Semperoper „SEMPER ZWEI“ war Venables Komposition der Kammeroper dem Sprachrhythmus des deutschen Textes von dem Dresdner Lyriker Durs Grünbein speziell angepasst worden.

In der Opernfassung sind Kanes sprachliche Seelenzerfleischungen, die unterschiedlichen Gedankengänge der Protagonistin,  auf sechs Sängerinnen, drei Sopranistinnen und drei Mezzosopranistinnen, aufgeteilt. Von der Inszenierung Tobias Heyders wurden die krankhaften Emotionen nicht in ein gesellschaftspolitisches Bezugssystem gesetzt, sondern atmosphärisch im abgeschlossenen Bereich der Psyche der Erkrankten belassen. Der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen blieb in der Inszenierung auf eine Bezugnahme der Sinnhaftigkeit von Behandlungen und der Qualität der Therapien begrenzt. Mehr konnte Sarah Kane ihren Interpreten auf Grund ihres Erlebens ohnehin nicht vorgeben. Es zeigte vor allem, wie emotionalen Mängelerscheinungen  glaubhaft Ausdruck vermittelt werden kann.

Hinter dem von Stephan von Wedel als dunkel schwarzer Komplex gestaltete Bühnenraum mit einem grauen Sofa spielten hinter einem durchsichtigen Vorhang die Instrumentalisten des Projektorchesters. Der Vorhang diente als Projektionsfläche für die durch Benedikt Schulte gestalteten Videoinstallationen: einer Visualisierungen „der Zeit des Erwachens, wenn die Klarheit vorbei schaut“ sowie fast zufälligen Einblendungen von Gemütszuständen der Erkrankten oder auch von Gedankenfetzen der Therapeuten. Über der Szene waren die Dialoge der Therapiesitzungen eingeblendet, die von zwei, an den Außenseiten angeordneten Perkussionisten, dem Zuschauer regelrecht eingehämmert wurden. Von links kommentierte der „Doktor“ Ulrich Gräfe und von rechts der „Patient“ Yuka Maruyama. Dort wurden auch der grauenvolle Medikamenten-Cocktail und die hilflosen Arzteintragungen im Krankenblatt eingefügt. Zur Komplettierung der Reizüberforderung des Auditoriums, wurden aus dem Rückraum des Zuschauerbereichs überlaute Sprachbeiträge, mal stotternd, mal verzerrt, eingespielt.

© Ludwig Olah

Die Musik Philip Venables erfasste die Gefühlslage der Texte Sarah Kanes höchst sensibel aber auch fantasievoll und konnte so eine Ahnung vom Leiden psychotischer Menschen vermitteln. Die tonale und freitonale Harmonik der Komposition  hatte Venables mit elektronischen Effekten, Geräuschen und Rückgriffen auf die Musik Johann Sebastian Bachs, Arnold Schönbergs sowie mit Zitaten englischer Lautenlieder angereichert. Polyphone Überlagerungen verdeutlichten, ja verdichteten die Persönlichkeitsspaltung der Protagonistin.

Venables hatte kompositorisch alles aufgeboten, dass es keine Längen gab. Max Renne dirigierte die Musik wie eine gelegentliche Insel des Friedens und gestaltete manches erträglich.

Die in Dresden lebende Sopranistin Sarah Maria Sun war für ihre Leistung bei der Uraufführung von „4:58 Psychose“ von der „Opernwelt“ als Sängerin des Jahres nominiert worden. Neben ihr agierten als Mezzosopranistinnen die aus Lettland stammende Karina Repova, die aus dem Walis kommende Samantha Price und die in Kirchheim geborene Sarah Alexandra Hudarew sowie als weitere Sopranistinnen, die aus Hamburg gebürtige Karen Bandelow mit der aus ihrer Zeit im Jungen Hausensemble bekannten Tahnee Niboro. Ihre Stimmen überlagerten sich und verwoben die Satzfetzen, einzelne Worte, Buchstaben zu einem bestechend eindrucksvollen Klangbild. Die persönlichen Konturen der Sänger-Darstellerinnen verschwammen im Gesang innerhalb der diffusen Persönlichkeit einer nur verzerrt erkennbaren Außenwelt. Ihre Selbstgespräche, Intuitionsfetzen, Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte kollidierten mit Diagnosen, Medikamentendosierungen, Therapieversuchen und führten zu Hasstiraden. Das Singen wechselte fast ungeordnet zwischen zart-poetisch, traurig mit auftrumpfender Aggression bis zur Grenze der Brutalität. In Phasen der größten Aggressivität gingen sich „Handelnde“ durchaus auch körperlich an, nur um die verhassten Gedankenfetzen zur Ruhe zu bringen. Sie warfen sich auf den Boden, würgten einander, um sich gleich wieder zu umarmen.

Die äußerst harten Beschreibungen der Gefühlszustände, von Durs Grünbein fast poetisch übersetzt, wurden von dem sechsköpfigen Frauenensemble rund um das Sofa im Bühnenvordergrund sowohl differiert als auch zugleich zusammengeführt. Karina Repova wurde auch mal mit einem Medizinerkittel verfremdet, um die Gefühlswelt der Behandler zwischen autoritärem Auftreten, Sinnlosigkeit ihres Tuns und die daraus resultierende Hilflosigkeit vom anderen Blickwinkel zu verdeutlichen.Um sängerische Leistungen besonders zu würdigen oder gar zu bewerten, fehlt mir der fachliche Hintergrund. Alle sechs Sänger-Darstellerinnen waren  ein wirkungsvolles bis zum Schluss ein geschlossen choreografiertes Madrigalensemble der Trostlosigkeit. In der Musik und der szenischen Darstellung blieb alles zuordenbar. Das war kalkuliertes Theater auf hohem Niveau.

Am Ende der Vorstellung zunächst minutenlange Stille und dem Verharren der Sängerinnen in ihrer Schlusspose. Dann viel Applaus.

Thomas Thielemann 17. März 2023


4:48 Psychose

(nach Sarah Kane)

Philip Venables

Wiederaufführung am 16. März 2023

Studiobühne der Semperoper „SEMPER ZWEI“

Inszenierung: Tobias Heyder

Musikalische Leitung: Max Renne

Projektorchester