Der aus dem tschechischen Hukvaldy stammende Leoš Janáček (1854-1928) lebte seit seinem elften Lebensjahr in der Alt-Brünner Stiftung des Augustinerklosters in einer fremden, nicht immer freundlichen Umgebung ausschließlich unter dem Einfluss männlicher Dominanzen. Im Stift erhielt er neben einer guten Allgemeinbildung eine ausgezeichnete Ausbildung zum Musiker. Es fehlte aber Janáček in diesen den Charakter prägenden Lebensjahren jeder weibliche Einfluss, so dass er lebenslang ein schwieriges Verhältnis zu Frauen entwickelte. Seine im Jahre 1881 mit der damals sechzehnjährigen Zdenka Schulzova (1865-1938)überstürzt geschlossene Ehe war deshalb vom Beginn nicht glücklich und von Krisen begleitet. Der auch philosophisch und mehrsprachlich hochgebildete Leoš fand in Zdenka keine kongeniale Partnerin für seine Arbeit und zu geistigem Austausch. Auch der Verlust ihrer beiden Kinder belastete die Ehe, ließ die Beziehung der Eheleute aber bis zum Tode des Komponisten stabil geregelt. Trotz einer breiten, handwerklich brillanten Palette von Kammermusik, Orchestermusik und zahlreichen Opern fehlte Leoš Janáček die nachdrückliche Anerkennung. Er hätte durchaus nach seinem sechzigsten Lebensjahr mit einem zurückgezogenen Leben eines unverstandenen Provinzkomponisten versauern können. Selbst sein Meisterwerk „Jenufa“, das er vermutlich unter dem Eindruck einer Behinderung und des Todes seiner ihm intellektuell nahestehenden Tochter Olga (1882-1903) erarbeitete, kam erst 1904 in Brünn zur Aufführung.
Eine Begegnung mit dem Ehepaar David und Kamila Stössl im Heilbad Luhačovice, das ihn wegen der schlechten Versorgung mit Lebensmitteln aus Armeebeständen unterstützte, wurde im Jahre 1917 für Leoš Janáček aber zur Initialzündung seines Schaffens der letzten Lebensjahre. Der 63-jährige Komponist verliebte sich unsterblich in die 26-jährige Gattin des jüngeren Freundes Kamila Stösslová (1891-1935) und glaubte mit ihr einen Menschen für den Austausch seiner Gedanken und Gefühle gefunden zu haben. Seine Liebe blieb unerwidert, so dass sich Janáček mit einer intensiven Brieffreundschaft begnügen musste. Über 700 Briefe des Komponisten, die von seiner intensiven Obsession zu Kamila zeugen, stehen deutlich weniger Antworten gegenüber. Aber immerhin: Kamila hat Leoš Janáček während seines Versterbens am 12. August 1928 betreut. Auch, wenn man etwas tiefer in ihre Beziehung schaut, war dieser letzte Liebesdienst für das Ehepaar Stössl nicht uneigennützig. Inzwischen gibt es gesicherte Vermutungen, warum es die Antwortbriefe der Kamila an Leoš gab und warum der David Stössl da „keinen Riegel vorschob“.
Die intensive Wirkung der platonischen Liebe des Komponisten auf die Aktivierung seiner Schaffenskraft ist unbestritten. In den ihm verbliebenen zehn Jahren entstanden seine nachhaltigsten Werke.
Janáček bombardierte die „Festung Kamila“ bereits fast zwei Jahre, als im Brünner Theater mit der Vorbereitung der Aufführung eines Dramas des russischen Autors Alexander Ostrowski (1823-1886) „Das Gewitter“ begonnen wurde. Als Mitbegründer des Brünner „russischen Zirkels“ bekam er den Text am Anfang des Jahres 1919, in die Hand, und begann aus der Übersetzung Vincenc Červinkas (1877-1942) das Libretto und kurze Zeit später die Musik für die „Káťa Kabanová“ zu schreiben. Neben seiner Begeisterung für den „Russophilismus“ entwickelte er aus Ostrowskis Stoff eine Assoziation auf das Ziel seiner Wünsche. In seiner Verliebtheit blendete Janáček die tatsächlichen Umstände aus und die vergebens Angebetete wurde für ihn die Verkörperung seines Frauenideals, die Quelle der Inspiration für die Titelfigur. „Es war dein Bild, das ich in Káťa sah, als ich komponierte“. Da halfen auch die verzweifelten Hinweise Červinkas auf die vernachlässigten differenzierten Charaktere in den fünf Akten des Dramas Ostrowskis nicht. Janáček reduzierte die literarische Vorlage auf das Porträt einer außergewöhnlichen, leidenschaftlichen Frau, die mit den Konventionen der Zeit und ihrer Gesellschaft bricht.
Die massiven tschechischen Kräfte in Brünn sorgten für eine zügige Uraufführung der „Káťa Kabanová“ am 23. November 1921. Kritiker bemängelten vom Beginn, dass die Oper keine flüssige Handlung habe. Eine Verankerung in den heutigen Spielplänen verdanken wir dem Australier Charles Mackerras (1925-2010), der in Prag als 22-jähriger Anfänger seine Leidenschaft für die Musik Leoš Janáčeks entwickelte. Mackerras entdeckte auch die 1927 entstandenen Zwischenspiele für den Bühnenbildumbau in den ersten beiden Akten wieder und ermöglichte so den zügigen Ablauf der Aufführungen.
Um was geht es in der Oper: Káťa Kabanová lebt mit ihrem Mann Tichon im Haus des Kaufmanns Dikój. Umgeben von den Angehörigen des Hausstandes, wehrt sich Káťa gegen deren Eingriffe in ihre Persönlichkeit. Ohne der Entwicklung ihrer Katastrophe etwas entgegen setzen zu können, schlittert Káťa in ihre persönliche Katastrophe. Ihre wichtigste Gegnerin ist ihre Schwiegermutter „Kabanicha“. Aber auch der Liebhaber Boris, die Pflegetochter Varvara und deren Partner Váňa Kudrjaš nebst dessen Freund Kuligin versagen, werden nicht helfen.
Die Inszenierung Calixto Bieitos war die Weiterentwicklung seiner Corona-Arbeit der “Káťa Kabanová“ am Nationaltheater Prag aus dem Januar des Jahres 2022. Der Intention Janáčeks folgend, bewegte sich die Titelfigur im aus kahlen weißen Wänden bestehenden Raum ihrer freudlosen Ehe. Káťa blieb die einzige Persönlichkeit in der Inszenierung, die eine psychologische Entwicklung durchlief. Letztlich hielt sie die Unvereinbarkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr aus und wählte in konsequenter Weise den Freitod. Auch die grandiose Personenregie Bieitos konnte der Oper den Fluch nicht nehmen, dass die Darsteller der Nebenpersonen ihre Figuren nicht entwickeln konnten und in ihrer Begrenztheit als hervorragend Singende sowie gut Spielende im kahlen Bühnenbild agieren mussten. Dafür erzeugte Bieitos Lichtregie an den Wänden ausdrucksvolle Schattenbilder.
Erst im Schlussakt öffnete sich der geschlossene Raum zum Ufer der Wolga und verblüffte mit einer regelrechten Wasserschlacht. Die Konzentration auf das Negative der Umwelt Káťas schränkte die Möglichkeiten Bieitos für eine stimmige und intensive Auslegung des Sujets ein. Damit wurde seine Interpretation nicht falsch, sie zeigte aber nur die bittere Erkenntnis vom Menschen als Ungeheuer. Dass Menschen auch als empathisches Wesen agieren, blendet die Inszenierung aus.
Mit dem am Wolga-Ufer im Hintergrund wirkenden Staatsopernchor wurde in der Inszenierung auch das über die Familie hinauswirkende gesellschaftliche Umfeld spürbar, auch wenn das literarische Ostrowski-Original von Janáček regelrecht kastriert worden war.
Das Konzept Calixto Bieitos am Pult der Sächsischen Staatskapelle umzusetzen, war dem 1974 in Buenos Aires geborenen argentinischen Dirigenten Alejo Pérez übertragen worden. Den Musikern der Sächsischen Staatskapelle war er von Repertoire-Aufführungen der „Carmen“ bereits ein Begriff.
Alejo Pérez bewies im Graben sein handwerkliches Können und veranlasste die Musiker der Staatskapelle zu bestechender Transparenz, Intensität sowie fulminanten Kontrasten. Leos Janáčeks spätromantische pulsierend aufbrodelnde Musik war bei Alejo Pérez in besten Händen. Er erfasste die feinen Details der Komposition und sorgte für eine stilgerechte Atmosphäre. Janáčeks musikalische Farben im Kontrast zur nüchternen Bühne stellten dabei durchaus eine Aufgabe. Mit stilistischem Gespür beachtete Pérez mit den Musikern die besondere Klanggestaltung des Komponisten und lotete die Details sowie die Extreme der Partitur vorbildlich aus. Unter seiner Leitung erzeugte die Staatskapelle intime und warme Klangmomente. Die Üppigkeit und manchmal fragile Wärme der Musikwirkung durch die bestechende, von sanften, wirkungsvollen Basslinien ummauerte Phrasierung der Streicher, waren doch der gesicherte Ausdruck des psychologischen Ausnahmezustandes Janáčeks beim Gestalten der Partitur. War die Stimmung des Komponisten gekippt, so stürmte die Musik los und wurde abrupt härter und gestochener, wenn es zur Sache ging. Die Logik der Handlung erforderte, dass die Musik Vorahnungen und Schuldgefühle mit der Ausweglosigkeit der Liebesbeziehung verknüpfte.
Alejo Pérez hatte am Dirigentenpult einiges zu tun und, meisterte die Abstimmung souverän. Mit Präzision erhielt jeder Musiker auf der Bühne und im Orchestergraben seinen Einsatz. Pérez ließ den Darstellern auf der Bühne Freiraum zur differenzierten und individuellen Entfaltung ohne dabei die Zügel aus der Hand zu geben. Mit seinem Dirigat gewährleistete er, dass die Sänger den Besonderheiten der tschechischen Sprache, die erste Wortsilbe zu betonen und lange Silben unbetont zu belassen, gerecht werden konnten. Janáčeks Musik verlangt nicht nur von den Sängern, sondern auch von Orchestermusikern viel. Man denke nur an die raschen Tonwechsel der Solotrompete im ersten sowie des Solohorns im dritten Akt. Die bruchstückhaften Generalpausen spalteten die musikalische Linie über Strecken und Blech und Pauken haben einiges zu leisten. Von selten gehörter Zartheit waren die sanften Streicherkantilenen in den lyrischen Szenen der Sehnsucht der Káťa.
Janáčeks hatte es mit seinen Kompositionen den Sängern nicht leicht gemacht und beanspruchte ihre Stimmen zum Teil erbarmungslos.
Die Darstellerin der Titelpartie Amanda Majeski leistete aber alles, was die Partitur und die Rolle verlangten. Der amerikanischen Sopranistin gelang, Interpretation, Musikalität und Stimme zu jener Einheit verschmelzen, die einen Opernabend zum unvergesslichen Erlebnis werden lassen. Mit vokaler Expressivität gestaltete sie in den großen Monologen die Komplexität des Charakters der jungen Frau. Aus der Szene, als Káťa vom Glück ihrer Kindheit und Jugend erzählt, wie strahlend ihr Leben aufgehoben in einer universalen Geborgenheit war, entwickelte sich in feiner Psychologie die Problematik ihres Lebens. Die von ihrer Umwelt ignorierte Sehnsucht auf Selbstbestätigung, auf Liebe und nach Freiheit blieb nur oberflächlich in der Beziehung zu Boris kaschiert. Ihre Gewissensbisse bezüglich des Ehebruchs, ihre Angst vor der Verdammnis mündeten in einen religiösen Rausch und erzeugten ein Schuldgefühl, mit dessen Last sie nicht weiterleben konnte.
Aber nicht nur Amanda Majeski, das komplette Sänger-Darsteller-Ensemble fügte sich bestens in die szenische Deutung ein. Trotz der stereotypen Rollenbilder, in denen die Nebenrollen-Darsteller agieren mussten, waren ihre Leistungen durchweg hervorragend.
Unfähig ihre Mutterrolle aufzugeben, kämpfte als die „Kabanicha“ Christa Mayer um die Zuneigung ihres Sohnes und damit gegen ihre Schwiegertochter. Mit eindrucksvoller Parallelität von Triebhaftigkeit und Gefühlskälte meisterte sie diese Aufgabe mit glänzender Gesangsdarbietung sowie einer souveränen Bühnenpräsenz. Christa Mayer bereitete die Rolle sichtlich Freude, nach außen einen rigorosen moralischen Lebenswandel zu heucheln und es im Versteckten mit Dikój zu treiben, ihn andererseits auch zu erniedrigen.
Ihr Sohn Tichon, charakterschwach und unsicher im Spannungsfeld zwischen dem folgsamen Sohn oder dem mal liebenden, mal prügelndem Ehemann, vermag mangels emotionaler Reife nichts zu unternehmen. Seine Frustration brachte der Haus-Tenor Simeon Esper mit einer animierten und ausdrucksstark gesungenen Darbietung auf die Szene.
Als Káťas Liebhaber Boris hatte der dänische Sänger Magnus Vigilius keine einfache Aufgabe zu bewältigen. Hatte doch seine Verliebtheit eher den Charakter eines sexuellen Abenteuers und begrenzte sich mit seiner Angst vor dem gewalttätigen Onkel. Die Spannungen und die Sinnlichkeit der Beziehung waren zwar spürbar, verflüchtigten sich aber nach der Verführung und wichen einem distanzierten, fast gleichgültigem Umgang. Im dritten Akt blieben kaum noch Reste einer Liebe spürbar. Seine ausdrucksstarke Stimme begeisterte mit Strahlkraft und Schmelz im Liebesduett
Die unkonventionelle, vitale Pflegetochter des Haushaltes Varvara wurde eindrucksvoll von Ṧtepánka Pučálková verkörpert. Sie brachte mit ihrem freien Denken Impulsivität auf die Bühne, wenn sie sich frei zu ihrem Liebesverhältnis mit Kudrjaš bekannte und selbiges auch auslebte. Aber ihr Verhalten gegenüber Káťa war nicht unproblematisch. Ihre Unterstützung blieb oberflächlich und trug zur Entwicklung des Desasters bei. Ihr voller, runder Mezzosopran lieferte aber mit der dunkeltimbrierten Stimme die volle erotische Note der Person.
Als Váňa Kudrjaš stellte Martin Mitterrutzners Tenor mit seiner komfortablen Höhe und ausreichenden Tiefe genau die richtigen, sympathischen Töne für Varvaras freidenkenden Liebhaber zur Verfügung. Mit seinem Volkslied im zweiten Akt hatte Janáček dem Paar die Möglichkeit gegeben, auch etwas Lebensfreude auf die Bühne zu bringen.
Der am Hause bestens eingeführte Kurt Rydl verkörperte mit seinem samtigen Bass den Hausherren Dikój: brutal polternd, teils gemütlich, aber immer präsent auf der Bühne. Besonders mit dem sorgsam gestalteten Besuch bei der Kabanicha hinterließ er einen starken Eindruck.
Als Kuligin konnte sich der russische Bariton Ilya Silchuk aus dem Jungen Ensemble der Semperoper im Zwiegespräch mit seinem Freund Váňa Kudriaš alias Martin Mitterrutzner am Beginn des dritten Aktes und vor allem in der Schluss-Szene mit einer brillanten Leistung auszeichnen.
Augenfällig gerieten auch die viel zu kurzen Dienerinnen-Auftritte der Haus-Mezzosopranistinnen Nikole Chirka als Gláša und der Sabine Brom als Fekluša sowie der Einwurf der Frau aus dem Volke Lucie Ceralová, die mit imponierendem Alt durch die kurze Partie schritt.
Für die grandiosen musikalischen Leistungen der Sängerdarsteller und des Orchesters hätte der Beifall des etwas ausgedünnten Publikums durchaus etwas länger ausfallen können.
Thomas Thielemann, 29. April 2024
Káťa Kabanová
Leoš Janáček
Semperoper Dresden
Premiere am 28. April 2024
Inszenierung: Calixto Bieito
Musikalische Leitung: Alejo Pérez
Sächsische Staatskapelle Dresden