Vincenzo Bellinis Norma hatte im Oktober 2021 an der Semperoper Premiere, sein Melodramma La sonnambula wurde dagegen vor 130 Jahren das letzte Mal in Dresden gespielt. Nun gab es in Koproduktion mit Opernhäusern in Paris, New York und Nizza eine Neuinszenierung von Rolando Villazón, der eine sehr eigenwillige Lesart des Werkes präsentierte. Bei ihm ist Amina eine selbstbewusste, lebensbejahende junge Frau, was in seltsamem Kontrast zur schwermütigen, elegischen Musik steht, welche der Komponist dieser Figur zugeordnet hat. Der Regisseur lässt sie hüpfen, hopsen, munter im Kreise wirbeln und ausgelassen mit den Dorfkindern spielen. Am Ende zeigt sie sich emanzipiert und verlässt Elvino, entflieht ihrer Enge über die Leiter und vereint sich mit ihrem Double, von welchem sie während der gesamten Aufführung tänzelnd begleitet wurde (Lucile Moulin als Spirit). Es war dies ein lieto fine in heutiger Deutung, zumindest nicht im Sinne des Komponisten, der dem liebenden Paar am Ende noch Töne eines gemeinsamen Glückes geschenkt hat.
Johannes Leiacker hat die Bühne vertikal zweigeteilt – unten sieht man einen abgeschlossenen Raum mit mehreren Türen und schmalen Tischen, darüber eine Alpenlandschaft mit schneebedeckten Gletschern, die, ebenso wie der Stückvorhang, an Caspar David Friedrichs Gemälde Eismeer erinnert. Der unteren Welt kann man nur durch eine Leiter entkommen, was Aminas beengte, klaustrophobische Lebenssituation zeigt. Seltsam freilich sind die Auftritte des Conte Rodolfo und Aminas Verlobten Elvino aus der oberen Ebene mit bemühtem Abstieg über die Leiter. Im 2. Aufzug bekommt die Szene einen surrealen Anstrich: ein Bett im Raum und ein weiteres in der Luft hängend, auf dem Boden inmitten von verstreuten violetten Blüten schlafende Menschen, eine der Türen schräg gekippt und mit schwarzem Kreuz stigmatisiert. Aminas Nachtwandelszene vermochte der Regisseur kaum Effekt abzugewinnen. Ein schräg abfallendes Felsensegment schiebt sich herein, von dem Amina herabsteigt und auf dem seltsamerweise auch Elvino balanciert.
Musikalisch war die 4. Aufführung am 23. 4. 2023 ein Fest, getragen von Evelino Pidò am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der eine stimmige Balance fand zwischen kantablem Melos, elegischen Valeurs und delikaten orchestralen Details. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: Jonathan Becker), von Brigitte Reiffenstuel in strenge, dunkelgraue Kostüme in ländlichem Stil gekleidet, sang engagiert und klangvoll.
In der Titelrolle war die Amerikanerin Emily Pogorelc mit leistungsfähigem Sopran von recht anonymem Timbre zu hören. Für die Partie wünschte man sich einen etwas melancholischeren, verschatteteren Ton, aber unbestritten ist die Brillanz der Sängerin, mit der sie Bellinis horrend schwierige Soli meisterte, gipfelnd im Finale mit der wehmütigen Kavatine „Ah! non credea mirarti“ und der virtuosen Cabaletta „Ah! non giunge“ (trotz greller Extremnoten). In Maxim MIronov hatte sie einen glänzenden Partner als Elvino. Der Russe, ein auch in Pesaro gefeierter Rossini-Spezialist, erprobte sich hier erstmals an einer Bellini-Partie – ein Debüt, das glanzvoll gelang. Das schmeichelnde Timbre, der bei allem Schmelz auch männlich grundierte Ton, der schwärmerische Ausdruck und die energische Verve machten seine Interpretation memorabel. Wunderbar die schmerzliche Färbung seiner Arie im 2. Akt, „Ah! perchè non posso odiarti“, hinreißend die Duette mit Amina, die beide mit spektakulären Spitzentönen krönten. Hochkarätig besetzt war der Rodolfo mit Georg Zeppenfeld, der die Partie weniger balsamisch, sondern mit leicht aufgerautem, aber sehr autoritärem Bass sang. Auch das Duett mit Elvino, „Signor Conte“, ertönte mit resoluter Entschlossenheit. Großartig die zweite Sopranpartie der Oper mit Rosalia Cid als Lisa. Die Spanierin erfreute mit gerundeter, lieblicher Stimme in ihrer lebhaften Arie „Tutto è gioia“, in „De’ lieti auguri“ im 2. Akt konnte sie mit feinen Trillern und aparten Koloraturen glänzen. Für die Witwe Teresa, bei der die Waise Amina aufgewachsen ist, war der Mezzo von Reut Ventorero etwas zu jugendlich getönt, aber sie berührte in ihrem Beistand für Amina gegen die Dorfbevölkerung. Martin-Jan Nijhof ergänzte die Besetzung als der unglücklich in Amina verliebte Alessio.
Die Aufführung, leider nur mäßig besucht, aber vom Publikum herzlich akklamiert, darf als verdienstvolle Wiederbelebung von Bellinis Meisterwerk an der Semperoper gewertet werden.
Bernd Hoppe 27. April 2023
La sonnambula
Vincenzo Bellini
Semperoper Dresden
23. 4. 2023
Inszenierung: Rolando Villazón
Musikalische Leitung: Evelino Pidò
Sächsische Staatskapelle Dresden