Dresden: „Norma“ in der Konzernzentrale

Peter Konwitschny inszenierte in Dresden

2. Oktober 2021

Im April 1831 wird am Pariser Odéon-Theater das Drama „Norma“ von Alexandre Soumet (1786-1845) mit großem Erfolg uraufgeführt. Vincenzo Bellini (1801-1835), der, ob seines Opernerfolgs am Teatro La Fenice in Venedig „I Capuleti e Montecchi“ den Auftragvon je einer Oper für die Mailänder Scalasowie das Venediger La Fenice für die Saison 1831/32erhalten und angenommen hatte, war bei der Stoffsuche auf die Tragödie aufmerksam geworden. Im Juli beauftragte er seinen Freund und den mit Rossini- und Donizetti-Opernlibretti bereits erfolgreichen Felice Romani (1788-1865) mit der Textbearbeitung für eine „tragedia lirica“.

Bereits Anfang Dezember begannen die Proben für die Erstaufführung sowie eine Anpassung der Partie der Titelheldin an die stimmlichen Möglichkeiten der Sängerin der Uraufführung Giuditta Pasta (1797-1865).Neun Varianten der Auftrittsarie soll Bellini der Pasta angeboten haben.Am 26. Dezember 1831 eröffnet die Scala die Saison mit Bellinis „Norma“.

Für uns heute schwer nachzuvollziehen, dass der „Workaholic" Bellini wenige Jahre später mit nur 34 Jahren an einer schweren Dysenterie versterben musste.

Romanis Libretto verortet uns in das römisch besetzte Gallien des ersten Jahrhunderts vor Christus. Die Oberpriesterin Norma, Tochter desobersten Druiden, unterhält seit Jahren eine verbrecherische Beziehung zum römischen Prokonsul Pollione, aus der bereits zwei Kinder entstanden sind, dieversteckt gehalten werden müssen. Als sich Pollione in die junge Novizin Adalgisa verliebte und mit ihr nach Rom gehen möchte, beschließt Norma, den Treuebruch zu rächen. Die Kinder vermag sie nicht zu töten und, obwohl die Jüngere sich zu einem Verzicht bereitfindet, erkennt sie, dass ihre Liebe beendet ist. Norma entscheidet sich zum gemeinsamen Feuertod mit Pollione.

Bellinis berauschende Musik verschafft der „Norma“ trotz des recht verquirlten Handlungsfadensimmer wieder einen respektablen Platz im zeitgemäßen Opernrepertoire. Der Regietheater-kritische Besucher wird deshalb den Erlebniswert des Opernabends an der Qualität des Musikalischen messen.

Das Musikalische des Premierenabends unter der Leitung des Komponisten und Dirigenten Gaetano d´Espinosa ließ kaum Wünsche offen. Der in Sizilien geborene war bereits seit seinem 21. Lebensjahr von 2001 bis 2008 mit der Sächsischen Staatskapelle u.a. als stellvertretender Konzertmeister der ersten Violinen verbunden. Im Winter 2019 dirigierte er erstmalig als Einspringer einen Opernabend in Dresden.

Mit den Musikern der Staatskapelle sorgte d´Espinisafür makellosen Bellini-Klang. Mit großen elegischen Bögen, farbenreich und transparent folgte er dem gefühlsdichten Drängen des Belcanto-Gesangs. Obwohl Bellinis Komposition vor allem den Sängern gehört, behielt d´Espinosa das Bühnengeschehen mit den Musikern der Sächsischen Staatskapelle fest im Blick.

Die Runde der Sänger-Darsteller eröffnete der Bassist des Hausensembles Alexandros Stavrakakis als Oroveso.Mit kräftiger, hervorragend timbrierter Stimme vermittelte der oberste Druide und Vater der Norma mit der Würde des Amtes die Verantwortung und leitete mit dem Chor die Bühnenhandlung ein.

Mit ihrem Hausdebüt konnte Yolanda Auyanet in der Partie der Norma mit Kraft und Intensität ihres Gesangs aufwarten, was der Darstellung der angesichts der Beleidigung und des Verrats des Vaters ihrer illegitimen Kinder tief getroffenen Frau beeindruckend diente. Beginnend mit dem langen Rezitativ vor der Einflug-Kavatine, des empfindsam gesungenen „Casta Diva“ über die wunderbaren Zwiesprachen mit Adalgisa bis zum beeindruckenden Terzett am Ende des ersten Aktes.

Die Ensemble-Mezzosopranistin Stepanka Pucalkova stand ihr in der Partie der Adalgisa mit dunkel timbrierter Stimme,zwischen erotischer Anziehung und selbstanklägerischen Gewissensbissenverzweifelt agierend, nicht nach. Auch das Duett im zweiten Akt gestalteten die beiden Sängerinnen mit beeindruckender Kraft und Intensität, ohne dabei den Schöngesang auszublenden.

Dem Pollione des ukrainischen Tenors Dmytro Popov nahm man in seinem Hausdebüt den Beziehungsfrustgegenüber Norma und die neue Leidenschaft zur Adalgisa unbedingt ab. Sehr vokalaffin, klar in den Höhen und mit leicht metallischem Klang überzeugt er mit feinen Nuancen. Im szenischen blieb er etwas steif, wenn er dem Macho und seiner Gewaltbereitschaft Ausdruck verleihen sollte. Letztlich schimmerte am Schluss eine gewisse Verletzlichkeit durch.

Mit ihrem klaren Sopran sang und spielte Roxana Incontrera eine starke, wache Clotilde, die sich als Vertraute Normas der illegitimen Kinder angenommen hatte. Die kleine Rolle des Pollione-Freundes Flavio ließ Jürgen Müller wenig Spielraumseine passable Stimme zu repräsentieren. Die Chor-Altistin Leonie Nowak hatte als Tempelwächterin= Bürohilfe einen schönen Auftritt.

Einem wesentlichen Anteil am musikalischen Erfolg des Abends sind den breiten von André Kellinghaus vorbereiteten Chorszenen mit ihrem ausdrucksstarken schönstimmigen Gesang zu verdanken.

Schwieriger war es, zumindest für mich, sich mit Peter Konwitschnys Inszenierung zu identifizieren.

Für den ersten Akt hatte er von Johannes Leiacker ein Bühnenbild im Stil der 1830-er Jahre mit den passenden Kostümen, oder so wie wir uns das heute vorstellen, gestalten lassen und führte uns in das keltische Druidentum des Galliens der vorchristlichen Zeit. Mit Konwitschnys Präzision wurden die parallel verlaufenden Handlungsfäden der politischen Auseinandersetzung zwischen den gallischen Stämmen mit den römischen Legionen und der tragischen Entwicklung Normas Liebe zum römischen Prokonsul Pollione seziert. Das war schon gekonnt, wie der Altmeister die Gegensätze von Kulturen vermittelte und dabei in keinem Moment Langeweile hat aufkommen lassen.

Mit dieser Schlüssigkeit wurde aber der erste Akt zum ersten Teil von Konwitschnys beabsichtigter Provokation.

Mit dem zweiten Aktverfiel die Inszenierung in das Prinzip des Regietheaters, dasuns Opernbesuchern nicht erlaubt, „für uns“ herauszufinden, was das als zeitlos propagierte Werk heute bedeuten könnte. Es ist fast beleidigend, dass uns Peter Konwitschny eigentlich nicht zutraut, gesellschaftliche Umbrüche, die wir selbst erlebt haben und noch erleben, mit Bellinis Musik in Einklang, oder eben nicht in Einklang, bringen zu können und deshalb einer Aktualisierung im Rahmen eines Besserwissens bedarf.

Das Großraum-Büro einer Konzernzentrale für den Chor und eine Verkehrsfläche mit einem Schreibtisch dienten, uns begreiflich zu machen, dass wir in der Gegenwart angekommen seien. Die Agierenden behalten zwar ihre Perücken aus dem ersten Akt. Sprich: Intellekt und Fühlen der Menschen habe sich auch in 2070Jahren eigentlich nicht entwickelt, aber ansonsten ist die Welt komplett verändert.

Was in der Konzernzentrale passiert hat folglich mit den eingeblendeten ohnehin absurden Texten des Librettisten Romanikaum Zusammenhang und ist letztlich nur wegen der gesangsfreundlichen italienischen Sprache zu akzeptieren.

Die Sängerdarsteller zeigten ihr phantastisches Singenmit unpassenden Bewegungen in einer dazu unpassenden Umgebung.

Beklemmend auch, wie Peter Konwitschny seine Mitmenschen, die nicht in einem Rampenlicht agieren, sieht, wenn er die Chormitglieder uniformiert und agitpropmäßig ihre wundervollen Gesangsszenen abliefern lässt.

Während im ersten Akt die Frauen, ob ihres Sehertums das Tempo der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bestimmten, ist doch offenbar im Konzern lediglich eine Sauerei im Gange, von der die Frauen des mittleren Managements Kenntnishaben. Sei es eine Finanzmanipulation, eine Korruption oder die Anpassung von Abgasprüfvorschriften. In der Auseinandersetzung opfern die früheren Kontrahentinnen den Macho, sind aber letztlich gescheitert und verlassen resignierend die Szene.

Es wird kolportiert, dass Peter Konwitschny auch andere Schluss-Szenen geprobt habe, wobei Büroeinrichtungen einschließlich des Kinderwagens komplett geblieben seien und Norma mit Adalgisa triumphierend die Szene verlassen.

Die Inszenierung war zwar handwerklich hervorragend gemacht, blieb aber zumindest für mich unbefriedigend, da jene Mitbürger, die eine solche Vorstellung besuchen, dieser Art der Nachhilfe nicht mehr bedürfen.

Mit einem Buh, aber reichlichen, zum Teil stehenden Ovationen wurden die Schaffenden des Abends bedacht.

Seit wir 2019 im Rahmen der MÜPA in Budapest mit der halbszenisch benannten Aufführung von Richard Wagners Ring des Nibelungen eine intensive Aufführungsreihe erleben durften, die uns trotz unserer im Laufe der Jahrzehnte doch stattlichen Ring-Karriereneue Sichten auf das Werk brachte. Die Konzentration auf die Singenden und Musizierenden ermöglichtenein neues und tieferes Eindringen in Wagners Anliegen. Das hat bei uns die Vermutung entwickelt, dass für die Repertoire-Oper die konzertante bzw.halbszenische Form als akzeptable Alternative zum Regietheater anzubieten wäre und die Bühne zeitgemäßen Schöpfungen überlassen bleiben sollte. Erfolgreiche weitere Ansätze gibt es bereits.

Autor der Bilder: Ludwig Olah

Thomas Thielemann, 3.10.2021