Konzert am 29.06.2022
Omer Meir Wellber und Vadim Gluzman mit Gubaidulina und Schostakowitsch
Vom 30. Juni 2022 bis zum 3. Juli 2022 finden in Gohrisch die „13. Internationalen Schostakowitsch-Tage“ statt. Traditionell fand am 29. Juni 2022 zur Einstimmung der über Dresden anreisenden Gäste in der Semperoper ein Gohrisch-Vorabend-Konzert der Sächsischen Staatskapelle mit dem Dirigenten Omer Meir Wellber statt.
Als Dmitri Boleslawitsch Schostakowitsch (1875-1922) verstorben war, musste dessen zweiter Sohn Dmitri, der am Retrograden Konservatorium ein Studium der Kompositionslehre absolvierte, einen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie leisten.
Trotz einer Lungen- und Lymphdrüsentuberkulose begleitete er nach den Lehrveranstaltungen in den Petrograder Kinos die Stummfilm-Vorführungen mit Klavierimprovisationen. Dabei sind ihm unzählige musikalische Einfälle untergekommen, die er zu einer Komposition verdichtete und als seine Abschluss-Arbeit des Kompositionsstudiums einreichte.
Für diese Komposition mit einer Fülle von Parodien, die tiefe Gefühle nicht scheut, aber jeder Art von Kitsch abschwört, sind die mittleren zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein günstiger Zeitrahmen. Der Russische Bürgerkrieg ist beendet, die junge Sowjetmacht hatte die wesentlichsten vom Zarismus hinterlassenen gesellschaftlichen Probleme und die mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ selbstgeschaffenen Verwerfungen im Griff, so dass man sich um die Entwicklung antibürgerlicher Künste sowie einer proletarischen Kultur kümmern konnte. Mithin wird die Uraufführung der Abschlussarbeit des jungen Genies als seine 1. Symphonie ein großer Erfolg.
Bei einem 1926 in Polen ausgeschriebenen Pianisten-Wettbewerb stellte Schostakowitsch sein Werk außerhalb Russlands vor. Der Juror Bruno Walter war begeistert, bat um die Partitur und führte die Symphonie bereits 1927 in Berlin auf.
Zum Glück der Musikwelt war der Pianist Dmitri Schostakowitsch im Wettbewerb weniger erfolgreich. Damit löste sich der Zwiespalt des Musikers, ob er eine Pianistlaufbahn ergreifen oder als Komponist weitere Erfolge anstreben sollte, wie bekannt auf.
Dass „Mitja“ sich durchaus auf dünnem Eis bewegte, erlebte er bei einem zum Studienabschluss gehörenden Examen in „Marxistischer Methodik“. Aufgefallen war Schostakowitsch mit einem Lachanfall über die Ausführungen eines Mit-Prüflings zu „ Unterschieden der Werke von Chopin und Liszt in soziologischer und ökonomischer Hinsicht“. Als sich der Prüfling Schostakowitsch zum Thema „ Fragen zum soziologischen Prinzip des Bach´schen Stimmungssystems und der Skrjabin´schen Klangaggregate“ auch noch als absolut unvorbereitet erwies, war er durchgefallen. Nur eine Intervention des Direktors des Konservatoriums Alexander Glasunow (1865-1936) ermöglichte eine erfolgreiche Nachprüfung.
Omer Meir Wellber dirigierte am Beginn des Konzertes Schostakowitschs „1. Symphonie“ beherzt, zuweilen frech, mal nachdenklich und gelegentlich auch abgründig, ohne sich in diese Abgründe zu verlieren. Immer gelang immer der Sprung über den tiefen Fall.
Wellbers Interpretation verband auf das Vortrefflichste den klassischen Aufbau der Symphonie mit den Slapstick-Anklängen von „Mitjas“ Eindrücken aus der Zeit des Stummfilm-Begleiters.
Die Musiker der Staatskapelle unterstützten dieses Konzept hervorragend mit ihren respektlos aufspielenden Trompeten, den abstrus blökenden Hörnern sowie den plärrenden Holzbläsern, so dass das Hören nur so eine Freude war.
Als zentrales Werk des Konzertes spielte der Geiger Vadim Gluzman mit der Sächsischen Staatskapelle das 1. Violinkonzert „Offertorium“ von Sofia Gubaidulina.
Gluzman, 1973 in der Ukraine als Sohn eines Dirigenten-Musikwissenschaftler-Ehepaares geboren, wuchs in Riga auf und ist seit 1990 in Israel beheimatet.
Für seine Interpretation des „Offertoriums“ hatte Gluzman die berühmte Stradivari „-Leopold Auer“, gefertigt 1690, mitgebracht. Der Vorbesitzer des Instruments Leopold von Auer (1845-1930) war als Geiger, Violinpädagoge und Dirigent mehrfach in Russland tätig und hat mit der Stradivari im Jahre 1905 das Violinkonzert op. 82 von Alexander Glasunow (1865-1936) uraufgeführt. Das Instrument sollte auch für die Uraufführung des Violinkonzertes von Peter Tschaikowski eingesetzt werden, denn der Komponist hatte das Werk ursprünglich von Auer gewidmet. Die von Auer gewünschten Änderungen waren aber für die erste Drucklegung der Partitur zu spät abgesprochen worden, so dass Auer Widmung und Uraufführung der gedruckten Partitur Fassung ablehnte.
Auer hat übrigens mehrfach im Haus Malerstraße 10 in Dresden-Loschwitz gewohnt und ist auch dort verstorben.
Das Violinkonzert „Offertorium“ hatte Sofia Gubadulina vom Sommer 1979 bis zum März 1980 auf eine Anregung von Gidon Kremer geschrieben und diesem auch gewidmet. Die bis zu dieser Zeit außerhalb der Sowjetunion nahezu unbekannte tatarisch-russische Komponistin wurde mit diesem Werk auch in Westeuropa anerkannt.
Das Offertorium begleitet als Gesang in einigen Choraltraditionen die Vorbereitung des liturgischen Opferritus, die Zurechtlegung des Brotes sowie des Weines für die Verabreichung des Abendmahls, und war üblicherweise ein Wechselgesang.
Vadim Gluzman spielte den komplizierten Solopart extrem differenziert und ausdrucksvoll bis in die letzten Verzweigungen mit großer Leidenschaft. Perfekt ausbalanciert antwortete das Orchester mit fließend ineinander übergehendenden Passagen auf seine Vorgaben. Faszinierend, wie sich sein Instrument selbst in den extremsten Piano-Passagen noch kraftvoll behauptete. Besonders beeindruckte der abschließende Streicherchoral.
Die 9. Symphonie gehört mit Sicherheit zu jenen Arbeiten Dmitri Schostakowitsch s, die am intensivsten einem Zuordnungsversuch in das Gesellschaftliche Umfeld und der persönliche Situationen des Menschen Schostakowitsch unterzogen worden sind. Die Interpretation Omer Meir Wellbers ließ nach meinem Empfinden letztlich nur einen erfrischenden Blick auf das Nachkriegswerk zu. Denn nirgends habe ich authentische Hinweise gefunden, dass Schostakowitsch mit dieser Symphonie das Sowjetsystem oder gar Stalin bewusst provozieren wollte. Letztlich findet man in der 9. Symphonie vor allem die Freude über den Sieg und die Erleichterung des Komponisten, dass die Kriegsgreuel beendet sind. Dass Schostakowitsch schon charakterlich in der Lage gewesen wäre, eine Siegeshymne in die Welt zu plärren und er zum Sänger von Stalins Triumph werde, hatte ohnehin kaum jemand erwartet.
Deshalb ließ Omer Meir Wellber den erste Satz allegro eher nachdenklich spielen und beschleunigte sein Dirigat erst mit dem Scherzo, ohne dabei auch in den Folgesätzen zusätzliche expressive Komponenten zusetzen.
Wellber ließ die Musiker der Staatskapelle unbeschwert und fröhlich spielen, betonte dabei das begeisternde Fagott-Solo.
Die Besucher dankten mit stehenden Ovationen für diese in unserem nicht einfachen gesellschaftlichen Umfeld wohltuend belebende Konzertabrundung.
© Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 30.6.2022