Bayreuth: „Tristan und Isolde“, Richard Wagner

Zählt man bei der Schilderung des Bühnenbildes im neuen Bayreuther Tristan von Vylautas Narbutas in der Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson einen Teil der Gegenstände auf, die den maroden Schiffsrumpf wie einen schlecht sortierten Trödelladen im zweiten Aufzug füllen, dann hört man mitunter: „Fehlt eigentlich nur noch das Fragezeichen!“ Die Jüngeren werden es nicht mehr kennen, aber Rudi Carrells Unterhaltungsshow „Am laufenden Band“ aus den 70ern endete mit einem Laufband voller Gegenstände, das der Gewinner der Spiel- und Rateshow von einem Korbsessel aus betrachtete – an was er sich erinnerte, durfte er mitnehmen. Ein weißer Würfel mit schwarzem Fragezeichen durfte keinesfalls ausgelassen werden, denn hier winkte ein besonders origineller Preis.

© Enrico Nawrath

Das Fragezeichen im Bayreuther Tristan von 2024 schwebt eher beständig im Raum, weil sich die Inszenierung mit der mal sparsamen, mal überopulenten Ausstattung ikonologisch und semantisch nicht wirklich erschließt. Herabhängende Taue im ersten Aufzug mögen eine Takelage andeuten oder auch Bindungen symbolisieren. Das riesige, wie ein Datenträger kreisrund ausgebreitete Brautkleid Isoldes wird von ihr mit Worten und Sentenzen aus dem Libretto beschriftet, aber das liest man von den oberen Reihen aus nur in wenigen, großgeschriebenen Ausnahmen. Es soll Isoldes Vergangenheit darstellen, die sie schreibend reflektiert, damit aber auch fixiert. Die Wendung „in Worte kleiden“ erhält hier eine weitere Bedeutungsebene – Tristan wird sich später in den Stoff hüllen. Er geht im Hintergrund durch den Trockeneisnebel hin und her wie Rilkes Panther; er scheint keine Ruhe in sich zu haben. Gerade in diesem Aufzug fehlt eine echte Personenregie, was sich in den meisten anderen Szenen der Produktion fortsetzt, und das Ganze von diesem Aspekt her langweilig macht.

© Enrico Nawrath

Das Sammelsurium im Antiquitäten-Schiff soll ja, wie in der Einführung erklärt, die Welt des (vergangenen) Tages im Gegensatz zur „Nacht der Liebe“ darstellen, aber auch das bedarf der Erläuterung, denn das assoziative Herumschwirren bei der Betrachtung der antiken Statuen, mittelalterlichen Rüstungsteile und hölzernen Lauf- oder Zahnräder, einem Globus, der Gemälde (das Segelschiff auf dem Caspar David Friedrich-Bild paßt natürlich zur nordisch-maritimen Welt) und Industriebauteile führt in zu viele Richtungen. Hatte Fafner Kunstgeschichte studiert, sähe es in seiner Höhle genauso aus. Und um noch eine Beziehung zu einer aktuellen Produktion herzustellen – der Fuchs aus Joshua Higgasons AR-Animation in Jay Scheibs „Parsifal“ ist hier auch wieder da, allerdings ausgestopft. Man ist an den Assmann´schen Begriff des „Kulturellen Gedächtnisses“ erinnert und offenbar müssen sich die beiden Protagonisten aus dessen Fängen lösen, um in einem Übersteigen der Traditionen „in des Welt-Atems wehendem All“ zu ertrinken, versinken und letztlich in einer Liebe zu verschmelzen, die das „ich“ nicht mehr kennt und auf die Auflösung in einem diffusen „wir“ zielt.

Im dritten Aufzug liegt ein großer Teil der Gegenstände auf einem Sperrmüllhaufen; das ist durchaus stimmig – wenn man begriffen hat, was die Dinge deuten. Arnarsson ist ja ein ausgewiesener Freund der Dekonstruktion und folgerichtig ist der ganze Schiffsrumpf dann in größere Einzel-Bauteile zerlegt, die zusammenhangslos auf der Bühne stehen.

© Enrico Nawrath

Den Buh-Sturm der Premiere hat das alles nicht verdient; man kann ja den Kopf schütteln oder sich des Applauses enthalten, aber dieses Thema durchzieht ja schon die Diskussion der vergangenen Woche in den einschlägigen Magazinen. Besucher von Tristan II fragen sich allerdings, warum die Premiere auch musikalisch durchgefallen ist, die Aufführung am 3. August war in dieser Beziehung grandios. Bereits die ersten beiden Töne des Vorspiels sind an Zartheit nicht zu übertreffen; das Crescendo im zweiten Ton klingt wie sehnendes Seufzen. Das Festspielorchester unter Semyon Bychkov malt ein großes weites Klanggemälde voller Tiefe, Innigkeit und Wärme. Wenn die Musik langsam erklingt, dann ist das hingebungsvoll, niemals schleppend; die am 25. Juli wahrgenommene Tempo-Verzögerungen sind nicht festzustellen.

Andreas Schager als Tristan wurde in der Premiere ein Schreien attestiert, hier moduliert er die Dynamik angemessen; wenn er laut wird, dann spricht aus ihm die Verzweiflung oder Leidenschaft. Seine Piano-Passagen wirken sensibel und entsprechen dem bei dieser Deutung der Figur ins Depressive gehenden Ansatz. Allein, wie er im zweiten Aufzug mehrfach das Wort „Liebe“ singt, treibt einem die Tränen in die Augen. Der Mann leistet wirklich Großes, ebenso wie Camilla Nylund als Isolde. Bitternis, Schmerz und höchste Liebeslust gestaltet sie mit ihrem durchdringenden, glühenden Sopran. Auch an ihrer Textverständlichkeit hat sie gearbeitet; noch versteht man bei ihr nicht alles, aber gerade die Endkonsonanten betont sie deutlicher als bei der Premiere. Sie bestreitet das Finale mit dem leuchtenden Bekenntnis zum Erlöschen des Individuums und seinem Aufgehen in der universalen Liebe.

© Enrico Nawrath

Günther Groissböck kommt im Kostüm von Sibylle Wallum ein bißchen wie der Fürst der Finsternis daher, aber sein Marke ist nicht nur männlich klar mit seinem unvergleichbaren starken Baß, sondern er gibt auch der tiefen Verletzung und Enttäuschung ergreifende Gestalt. Auch hier fragt man sich, was bei der Premiere passiert ist, aber man kennt ja mittlerweile die Haltung eines Teils des Bayreuther Publikums, diejenigen, die alles geben, abzuwatschen, wobei diese Leute vor allem darin groß sind, sich wichtig zu tun. Die Brangäne von Christa Mayer hat wundervolle Momente mit liebevoller Anteilnahme, aber wie bei ihrer Götterdämmerungs-Waltraute klingen gerade die oberen Mittellagen metallisch und etwas kehlig. Die großen und kleinen Nebenrollen sind wunderbar besetzt, vor allem Olafur Sigurdarson als Kurwenal überzeugt durch eine kraftvolle Darstellung des treuen Freundes. Im dritten Aufzug hört man etwas die Anstrengung heraus, aber was leistet der Mann auch seit Tagen! Birger Raddes Melot, der Steuermann von Lawson Anderson, der Hirt von Daniel Jenz und Matthew Newlins Seemann bleiben allesamt durch gut verständliche Diktion und – trotz der kaum existierenden Personenregie – auch Bühnenpräsenz in Erinnerung.

Dieser Tristan ist bezüglich der ausgezeichneten Leistung der Solisten und des klangfarbig spielenden Orchesters unter seinem einfühlsamen Dirigenten schlichtweg als mitreißend zu bezeichnen. Für die Inszenierung ist die Bayreuther Werkstatt zuständig. Die kann sich dann des Trödelladens annehmen und die in ihm agierenden Personen sich noch lebendiger regen lassen.

Der entfesselte Applaus in jedem Falle spricht für sich – diesen Tristan vergißt man nicht!

Andreas Ströbl, 4. August 2024


Tristan und Isolde
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Aufführung am 3. August 2024

Inszenierung: Thorleifur Örn Arnarsson
Musikalische Leitung: Semyon Bychkov
Festspielorchester und -chor Bayreuth