Hamburg: „Agrippina“

Liebe, Lügen und Intrigen

300 Jahre wurde Händels Dramma per musica Agrippina von 1709 in Hamburg nicht gespielt, nun feierte es am 28. Juni 2021 Premiere im Rahmen der Wiedereröffnung der Staatsoper nach der durch die Pandemie bedingten Schließung. Die Inszenierung von Barrie Kosky entstand für eine Aufführungsserie an der Bayerischen Staatsoper München 2019 und wurde danach auch am Royal Opera House Covent Garden in London gezeigt. Johannes Stepanek hatte an der Inszenierung mitgearbeitet und sie nun in Hamburg einstudiert. Sie setzt auf Witz und Ironie, überzieht gelegentlich die Turbulenzen der Handlung – ganz in der bekannten Manier Koskys – durch überdrehten Klamauk und Slapstick-Einfälle. Dafür ist vor allem im 3. Akt Gelegenheit, wenn sich die Ereignisse zu überschlagen scheinen und Poppea nacheinander alle ihre drei Bewerber empfängt. Am Ende negiert der Regisseur das barocke lieto fine, streicht den Auftritt der vom Himmel herabsteigenden Göttin Juno und lässt die Titelheldin ganz allein zurück – verlassen und einsam sitzt sie in dem großen Container-Käfig, den Rebecca Ringst erdacht hatte. Dessen drei Teile werden von Bühnenarbeitern in schwarzer Kleidung und Gesichtsmasken permanent bewegt und immer wieder neu zusammengesetzt.

Störend sind die Reflektionen des grellen Lichtes (Joachim Klein) auf der metallenen Oberfläche des Kastens sowie die klappernden Geräusche der Jalousien, welche die einzelnen Segmente verschließen. Die Ausstattung ohne zeitlichen und lokalen Bezug gehört zu jenen, in denen man jedes Stück aufführen kann, die aber keinem einzigen optisch eine individuelle Atmosphäre verleiht. Weit attraktiver sind die von Klaus Bruns entworfenen Kostüme. Vor allem für Poppea gibt es Atem beraubende Roben und Julia Lezhneva trägt sie mit wahrhaft majestätischer Würde. Die russische Sopranistin erweist sich dann auch vokal als die Königin des Abends und feiert nach ihrer Morgana in der Alcina einen weiteren großen Erfolg in Hamburg. Schon in ihrer von der Flöte lieblich umspielten Auftrittsarie, „Vaghe perle“, becirct sie mit zärtlich-süßen Tönen und staccato-Koloraturen, die das Zwitschern der Vögel in Vollendung imitieren. Die folgende Arie, „È un foco quel d’amore“, ist dagegen hektisch-aufgeregt, die nächste, „Se giunge un dispetto“, am Ende des 1. Aktes gar von keifender Raserei und mit furiosen Koloraturgirlanden bestückt. Für all diese divergierenden Stimmungen findet die Russin den adäquaten Ausdruck und lässt es dabei nie an Bravour und Perfektion fehlen. Ihr fast ebenbürtig Anna Bonitatibus in der Titelrolle bei ihrem Hamburger Debüt. Die Italienerin, im schwarzen Kleid von strenger Erscheinung, lässt einen pastosen Mezzo von großer Autorität hören. Ihre Koloraturläufe sind virtuos und expressiv. Die große Szene, „Pensieri“, im 2. Akt reizt sie bis ins Extrem aus, sowohl in der dargestellten Gefühlswelt als auch der Tessitura. „Ogni vento“ serviert sie mit Delikatesse und Raffinement, das Da capo singt sie wie einen Hit in ein Handmikrofon und schickt am Ende noch ein „Grazie, Hamburg!“ nach. Ihr letztes Solo, „Se vuoi pace“, ertönt dann ganz zart und entrückt, was einstimmt auf den intimen Schluss, der das übliche festliche Ballett ersetzt.

Die drei Partien der einstigen Kastraten werden in Hamburg von drei exzellenten Countertenören wahrgenommen. Franco Fagioli mit tätowiertem Schädel zeichnet den Nerone im schwarzen Hoodie als verklemmten und affektierten Psychopathen. Am Ende trägt er als Kaiser einen Designer-Anzug mit reicher Goldstickerei. Noch immer sind seine Koloraturgirlanden von stupender Perfektion, ist der Umfang der Stimme von baritonaler Tiefe bis in die exponierte Höhe staunenswert. Allerdings hört man in den ersten Soli auch einen verhärteten Klang, der sich erst später rundet. „Quando invita la donna“ im 2. Akt profitiert vor allem von der träumerisch-zarten Wiedergabe des Da capo. Und das Bravourstück „Come nube“ verfehlt dann auch nicht seinen Effekt, empfängt in der Ausformung des Interpreten eine geradezu artistische Dimension. Insgesamt sehr ausgewogen singt Christophe Dumaux den Ottone, dem er mit stattlicher Erscheinung und in schmucker Uniform auch optisch einen attraktiven Umriss verleiht. Bei aller stimmlichen Virtuosität, über die auch der Franzose verfügt, beeindruckt er doch vor allem mit der schmerzlichen Arie „Voi che udite il mio lamento“, der ein expressives accompagnato-Rezitativ vorausgeht und deren Da capo der Sänger ganz zart und verinnerlicht ausbreitet. Dritter Counter ist Vasily Khoroshev als infantiler Narciso, einer von Claudios politischen Beratern, mit weichem Klang. Der andere ist der Bassist Renato Dolcini als Pallante – eine der drei Partien, welche kontrastierend tiefe Töne einbringen. Zu diesen zählt neben Chao Deng als Diener Lesbo vor allem Luca Tittoto als Kaiser Claudio mit ausladendem, auftrumpfendem Bassbariton.

Das hohe musikalische Niveau der Aufführung garantiert nicht zuletzt Riccardo Minasi, ausgewiesener Spezialist für die Alte Musik, am Pult des Ensemble Resonanz. Schon mit der straffen Sinfonia setzt er starke Akzente, die sich später mit differenziert und farbig musizierten Szenen wiederholen. Pompöser Bläserglanz kündigt das Eintreffen Claudios an, dissonant-harsche Akkorde begleiten Ottones Lamento, furios wird Agrippinas große Arie eingeleitet. Immer wieder fühlt sich das Publikum zu Beifall animiert, der sich am Ende zu Ovationen steigert.

Bernd Hoppe, 2.6.2021

Bilder (c) Hans Jörg Michel