Hamburg: „Orphée et Eurydice“

Premiere am 03.02.2019

Ein Abend für die Seele

Eine Ballettprobe: Der Choreograph arbeitet mit seinen Tänzern. Mit einer der Tänzerinnen, die auch seine Ehefrau ist, gibt es eine Meinungsverschiedenheit bis hin zum Streit mit einer schallenden Ohrfeige, die sie ihm gibt und dann die Probe verlässt. Wenig später kracht ein Auto mit lautem Knall auf die Bühne. Sirenengeheul und ein Anruf auf dem Handy des Choreographen mit der Todesnachricht der Tänzerin. Es ist immer schlecht, wenn böse Worte die letzten waren, bevor der Tod ein endgültiges Ende setzt.

Aber ist das Ende wirklich endgültig? Wir befinden uns nämlich in der Oper Orphée et Eurydice von Christoph Willibald Gluck. Der Choreograph ist Orpheus und die Tänzerin Eurydike, Amor ist der Assistent des Choreographen. Im Wahn stellt sich Orpheus vor, im Hades zu sein und seine Eurydike ins Leben zurückholen zu können. Das misslingt, weil er sie verbotenerweise doch ansieht. Eine erneute Gnade der Götter gibt es nicht: Eurydike wird nur in seinem Herzen und in dem Ballett, das er kreiert, weiterleben.

So sieht es John Neumeier in seiner Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper, die als Koproduktion mit den Opernhäusern in Chicago und Los Angeles nun in Hamburg Premiere hatte. Sein Konzept enthält auch Autobiographisches: Neumeier widmet die Produktion dem Andenken der 2005 verstorbenen Tänzerin Sybil Shearer, deren „einzigartiger Beitrag als Tänzerin und Choreographin sowie deren kreative Künstlerpersönlichkeit für ihn eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration waren“.

Neumeier hatte das Werk bereits 1978 (mit Marco Arturo Marelli) in Hamburg inszeniert. Bei der Neuproduktion zeichnet er allein für Regie, Choreographie, Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich. Das Ergebnis ist wie aus einem Guss. Das gleichberechtigte Nebeneinander (besser: Miteinander) von Oper und Ballett hätte besser nicht gelingen können. Beides fügt sich völlig organisch zusammen. Da ist die vor allem mit Elementen des klassischen Balletts konzipierte Choreographie, die raumgreifend und ausdrucksvoll ausfällt und vor allem in ihren Bewegungsabläufen von bezwingender Natürlichkeit geprägt ist. Und die Personenführung von John Neumeier macht die Trauer und Verzweiflung von Orpheus geradezu greifbar. Die Rahmenhandlung holt die Geschichte zwar etwas vom Podest des Mythologischen herunter, ändert aber nichts am Kern der Geschichte: Unendliche Liebe, die den Tod als Ende nicht akzeptieren will.

Im Hintergrund der Bühne ist das Bild „Die Toteninsel“ von Arnold Böcklin zu sehen. Im Kontext dieser Inszenierung markiert es keinen Ort des Schreckens, eher einen des Trostes. Mit spiegelnden Wänden und mit drehbaren Raumelementen ist die Bühnengestaltung variabel und aussagekräftig. Eine Bank mit einer Zypresse, wie sie sich auch in Böcklins Bild finden, ist für Orpheus ein Ort der Zuflucht und des Gedenkens. Bilder der Erinnerung, etwa von seiner Hochzeit mit Eurydike, tauchen vor seinem inneren Auge auf. Dabei klammert er sich, auch am Ende, an den Schal, den Eurydike beim Verlassen der Probe verloren hat. Die Lichtstimmungen von Blau bis Orange sind von ausgesprochen ästhetischer Schönheit und Symbolkraft. Ein Abend für die Seele!

Chor und Orchester teilen sich den Graben. Eberhard Friedrich sichert dem Chor einmal mehr die gewohnte Präzision und Klangfülle. Und Alessandro De Marchi sorgt am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters für eine ausgeglichene und in vielen Details funkelnde Wiedergabe.

Die Riesenpartie des Orpheus wird von Dmitry Korchak glanzvoll bewältigt. Die emotionale Spannbreite kann er überzeugend vermitteln, wobei er seinen ausdruckvollen Tenor mit feiner Differenzierung führt. Dass er bei einigen Koloraturen an Grenzen stößt, tut seiner Leistung keinen Abbruch. Ihm zur Seite gefällt auch Andriana Chuchman als Eurydike mit ebenmäßig strömendem Sopran. Marie-Sophie Pollack, die als Amor und als „moralische Stütze“ für Orpheus fungiert, komplettiert das Trio der Solisten sehr kompetent.

Wolfgang Denker, 4.2.2019

Fotos von Kiran West