Premiere am 08.01.2017
Blut und Champagner
„Soll ich springen oder nicht?“ – Diese Frage stellt sich Desdemona in Verdis „Otello“ eher selten. Wohl aber in der Inszenierung von Calixto Bieito, die von der Staatsoper Hamburg aus Basel (2014) übernommen wurde. Desdemona hat nämlich den riesigen, knallgelben und die gesamte Bühne beherrschenden Hafenkran erklommen, wo sie nach den erfahrenen Demütigungen, die in einer Vergewaltigung durch Otello gipfelten, offensichtlich Suizid-Gedanken hat. Aber sie springt, nach einem berührenden „Lied von der Weide“ und dem „Ave Maria“, denn doch nicht. Gleichwohl kann sie ihrem Schicksal nicht entrinnen: Otello erwürgt sie in luftiger Höhe und klettert danach auf die weit in den Zuschauerraum ausgefahrene Kranbrücke, wo er elendiglich an einem Herzinfarkt verreckt.
Bieito hat sich in seiner Sicht weit vom eigentlichen „Otello“-Drama entfernt. Hier geht es nicht mehr um Seelenqualen und Minderwertigkeitskomplexe eines Außenseiters und die hinterlistige Intrige, hier geht es um das Thema Demütigung, Frauenfeindlichkeit und Flüchtlinge. Bevor Verdis fulminante Sturmmusik einsetzt, sieht man gefesselte Menschen hinter Stacheldraht. Ist Zypern ein zweites Lampedusa? Otello steht wie Macbeth mit blutverschmierten Händen da, die Flüchtlinge werden zynisch mit Champagner bespritzt, eine Frau wird misshandelt und einer der Flüchtlinge wird am Kran aufgeknüpft, wo er minutenlang zappelt, bis er leblos baumelt. Warum? Otello ist kein Schwarzer, sondern der Anführer einer moralisch degenerierten Gesellschaft. Desdemona ist das Luxusweibchen im schicken Pelzmantel an seiner Seite. Später versucht sie ihr Unglück mit Alkohol zu ertränken und torkelt betrunken über die Bühne. Da ist Jago, der zumeist wie ein zurückhaltender Kammerdiener agiert, fast die einzige, in sich gefestigte Figur. Beim Credo kommt er langsam aus der Bühnentiefe und wirft wie eine Nosferatu-Variation einen bedrohlichen, riesigen Schatten.
Bieitos Personenführung ist über weite Strecken sehr statisch. Man steht an der Rampe oder an festen Plätzen in der Bühnenmitte, fast oratorienhaft. Das gibt sich nach der Pause, weil dann doch etwas mehr Interaktion stattfindet.
Gleichwohl entsteht der Eindruck, dass Verdis „Otello“ einfach nur für die Ideen des Regisseurs herhalten muss. Die Kostüme von Ingo Krügler (Anzüge und Gehrock) sind beliebig, die Bühnenausstattung von Susanne Gschwender setzt ganz auf die spektakuläre und aufwändige Konstruktion des hin- und hergefahrenen Krans. Allein vom optischen Eindruck käme man nicht auf die Idee, dass hier Verdis „Otello“ gespielt wird. Zwar hat Bieito nun bei seinem Hamburg-Debüt seinen Ruf als Skandal-Regisseur nicht bestätigt, weil sich Gewaltorgien für seine Verhältnisse in Grenzen hielten, aber ein großer Teil des Publikums reagierte dennoch mit massiven Buhrufen.
Einhellig gefeiert wurde die musikalische Seite. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor zeigte sich einmal mehr in Bestform, ganz besonders im 3. Akt. Und auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Paolo Carignani überzeugte durchweg mit einer dramatisch aufgeheizten Wiedergabe, wenn auch manchmal etwas „knallig“ auf die Tube gedrückt wurde.
Als Otello ist Marco Berti für den erkrankten Carlo Ventre eingesprungen. Er steht die Partie gut durch. Seine helle Stimme lässt das in dieser Partie doch wünschenswerte baritonale Fundament vermissen, wodurch manches etwas grell ausfällt, aber in den entscheidenden Momenten ist er immer voll da. Claudio Sgura singt den Jago ausgesprochen elegant und mit schmiegsamem Bariton – ein „Opernschurke“ der feinen Nuancen. Als Desdemona gab Svetlana Aksenova ihr erfolgreiches Debüt in Hamburg. Ihre kontinuierlich sich steigernde Leistung wird gekrönt vom „Lied von der Weide“ und dem „Ave Maria“. Hier findet sie zu einer Innigkeit und gestalterischen Intensität, die gleichzeitig den Höhepunkt der Premiere markiert. Es ist in dieser Inszenierung auch der einzige Moment, der wirklich tief berührt. Aufhorchen lässt Nadezhda Karyazina, die als Emila stimmlich und darstellerisch mit beachtlicher Präsenz überrascht. In den weiteren Partien bewähren sich Markus Nykänen (Cassio), Peter Galliard (Roderigo), Alexander Roslavets (Lodovico), Bruno Vargas (Montano) und Michael Reder (Herold).
Wolfgang Denker, 09.01.2017
Fotos (c) Staatsoper / Hans Jörg Michel