Besuchte Aufführung: 3.11.2019 (Premiere: 27.10.2019)
Die Kinder des totalitären Regimes
Zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten geriet die Neuproduktion von Verdis Don Carlos an der Staatsoper Stuttgart. Verdi hat seine Oper für Paris in Form einer fünfaktigen Grande Opera in französischer Sprache geschrieben. Später hat er das Werk mehrmals überarbeitet. Sieben Fassungen gibt es von dem Stück. In Stuttgart wurde nun eine achte hinzugefügt. Zur Aufführung kam die fünfaktige Fassung im französischen Idiom. Dabei waren einige Szenen zu erleben, die sonst immer dem Rotstift zum Opfer fallen. So musste Verdi beispielsweise das Eingangsbild nach der zu lang geratenen Generalprobe der Uraufführung von 1867 streichen. Diese dramaturgisch zentrale Szene, in der Elisabeth im Wald von Fontainebleau dem leidenden Volk begegnet und es großzügig beschenkt, war in Stuttgart jetzt zum ersten Mal zu erleben. Der erste Akt folgte insgesamt der erwähnten Generalprobenfassung. Im Übrigen orientierte sich die Stuttgarter Aufführung an der letzten Revision des Werkes in Modena aus dem Jahre 1886. Einen derart umfangreichen Don Carlos hat man schon lange nicht mehr erlebt. Insgesamt dauerte die Vorstellung viereinhalb Stunden mit zwei halbstündigen Pausen.
Olga Busuioc (Elisabeth), Massimo Giordano (Don Carlos), Christopher Sokolowski (Graf von Lerma), Staatsopernchor Stuttgart
Lobenswerterweise hat man auch die Ballettmusik im dritten Akt gegeben. Hier wurde von GMD Cornelius Meister indes eine einschneidende Änderung vorgenommen. Das Ende des Balletts wurde durch Gerhard E. Winkler s aus dem Jahre 2015 stammende Pussy – (r) – Polka, die das Ende von Verdis Don – Carlos – Ballettmusik zitiert, ersetzt. Diese Polka nimmt Bezug auf die russische Punkrock – Band Pussy Riot, die dem russischen Staat und seiner Kirche äußerst kritisch gegenüberstand und aus diesem Grund vor einigen Jahren auch inhaftiert wurde. Hier sind Eisenketten und Polizeipfeifen hörbar. Geschickt wird so ein politischer Kontext hergestellt, der durchaus logisch ist. Indes stellt dieses moderne Werk im Gesamtgefüge des Don Carlos einen Fremdkörper dar, auf den man besser verzichtet hätte. Aber dieses Stück erfreut sich nun mal der besonderen Wertschätzung von Cornelius Meister, der es mit feurigem Elan dirigierte. Auch sonst gelang dem Dirigenten zusammen mit dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart eine treffliche Wiedergabe von Verdis Oper. Insbesondere die Holzbläser und die Streicher vermochte Meister zu einer genialen Leistung zu animieren. Aber auch der übrige Orchesterapparat folgte seinen Weisungen hoch konzentriert und setzte sie einfühlsam um. Die Tempi waren insgesamt recht flüssig und das Klangbild relativ durchsichtig und farbenreich. Intensität und Transparenz wurden an diesem Abend ganz groß geschrieben.
Goran Juric (Philipp II), Björn Bürger (Marquis von Posa)
Überzeugend war die Inszenierung von Lotte de Beer, für die Christof Hetzer das Bühnenbild und die Kostüme beisteuerte. Von allem pompösen Äußeren wollte das Regieteam nichts wissen. Vielmehr setzte es stark auf Reduktion. Die fast leere Bühne ist durchweg dunkel beleuchtet. Enorme Düsternis macht sich breit, die nichts Gutes verheißt. Geprägt wird das Bühnenbild von einer schwarzen Mauer, die mit Hilfe der Drehbühne oftmals ins Rotieren kommt und so die verschiedenen Handlungsorte herausstellt. Letztere werden in dieser Produktion indes nur angedeutet. Im Inneren der Drehbühne sieht man nur wenige Versatzstücke, so eine Wolke, eine Treppe, ein Bett, den Schreibtisch Philipps II, einen Kirschbaum und eine Galerie für den Chor im Autodafé. Lotte de Beer geht es darum, die Handlung von unserer konkreten Gegenwart zu trennen und zu emanzipieren (vgl. Programmbuch S. 19). Demgemäß zeigt sie ein totalitär regiertes Spanien, wie es in zwanzig oder dreißig Jahren vielleicht aussieht. Wir haben es hier gleichsam mit einem Phantasie-Spanien in nicht allzu ferner Zukunft zu tun. Nachhaltig hallt die Warnung der Regisseurin in den Raum, derartige fragwürdige Zustände, wie sie z. Z. Philipps II in Spanien geherrscht haben, nicht mehr aufkommen zu lassen. Totalitären Machtstrukturen und religiösem Fundamentalismus, wie sie der Inquisition eigen sind, wird von ihr eine klare Absage erteilt.
Christopher Sokolowski (Ein königlicher Herold), Staatsoperchor Stuttgart
Konsequenterweise beleuchtet sie die Inquisition besonderes eindringlich. Der weiß gekleidete Großinquisitor ist bei ihr kein blinder Greis von 90 Jahren, sondern ein noch durchaus rüstiger Mann von cirka 60 Jahren, der noch sehr gut sehen kann. Das ist ein Mann, den nichts mehr zu rühren vermag. Mit großer Ruhe verspeist er einen Apfel, während das Autodafé beginnt. Dass er bereits in diesem Bild auftritt, zeugt von Frau de Beers geschicktem Umgang mit Tschechow’schen Elementen. Dann streichelt er den Delinquenten und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. Auch der König wird von ihm auf diese Weise geküsst. Er macht wohl vor niemandem Halt. Dieses Bild wirkt recht bizarr. Die große Auseinandersetzung zwischen dem Kirchenmann und Philipp II ist ein szenischer Höhepunkt der Aufführung. Die unmenschliche Inquisition zerstört sämtliche Handlungsträger.
Falk Struckmann (Großinquisitor), Goran Juric (Philipp II)
Diese werden von Lotte de Beer ausgezeichnet gestaltet. Don Carlos ist in ihrer Interpretation ein traumatisierter Schwächling, der sich nicht durchsetzen kann. Er hat es im Leben wahrlich schwer. Elisabeth wird als großzügig und ausgesprochen selbstlos gezeigt. Schon die Liebesszene des ersten Aktes, in deren Verlauf sich die beiden jungen Leute entkleiden, atmet große szenische Spannung. Marquis Posa erscheint als Widergänger von Che Guevara, der sich im Laufe des Geschehens vom überzeugten Revolutionär zum Parteigänger König Philipps wandelt und auf diese Weise zum Verräter an Carlos wird. Philipp II ist ein faschistischer Militarist im weißen Gewand und mit dunklen Handschuhen. Der Verantwortung für die Ketzerverbrennung versucht er mit einer rituellen Waschung zu entgehen – ein guter Regieeinfall, dieses Pilatus-Prinzip. Mit starkem Charakter präsentiert sich die Prinzessin Eboli, die alles daran setzt, Carlos für sich zu gewinnen, aber am Ende scheitert. Angesichts des drohenden Klosters schneidet sich die nur noch im Untergewand Dastehende die Haare ab.
Ksenia Dudnikova (Eboli), Olga Busuioc (Elisabeth)
Zentrale Relevanz kommt in Lotte de Beers Interpretation den Kindern zu, die am Beginn des dritten Aktes Carlos umgarnen. Als Vorwegnahme des Autodafés wird von ihnen eine Puppe in Brand gesteckt. Am Ende töten sie den jetzt blutüberströmten Mönch, hinter dem sich Philipps Vater Karl V verbirgt, mit einer Tüte. Es ist eine in höchstem Maße fragwürdige, schlimme und gewalttätige Kinderschar, die hier vorgeführt wird. Assoziationen an Michael Hanekes Film Das weiße Band stellen sich ein. Diese Kinder wissen es nicht besser. Sie imitieren nur das, was sie von den Erwachsenen gelernt haben. Und das ist Gewalt. Und immer wieder nur Gewalt. Es handelt sich um eine ausgesprochen trostlose Zukunftsperspektive, die die Regisseurin hier mit einem Höchstmaß an Eindringlichkeit aufzeigt. Wenn man seine Kinder nicht zum Besseren erzieht, können sich die Verhältnisse nicht zum Guten wenden. Was die Menschen säen, das ernten sie auch. Wenn sie ihren Kindern ein schlechtes Vorbild sind, werden auch diese böse. Sie sind aber nicht fähig, ihren Nachkommen zu zeigen, was dieses „Bessere“ sein soll (vgl. Programmbuch S. 25). Hier haben wir es gleichsam mit einem Fall von Erbsünde zu tun. Das alles war sehr überzeugend und wurde von Frau de Beer mit einer spannenden, intensiven und sehr ausgefeilten Personenführung bestens umgesetzt. Massenszenen wie auch intime kammerspielartige Szenen wurde von ihr mit derselben Genialität ausgelotet.
Ksenia Dudnikova (Eboli), Goran Juric (Philipp II)
Auf hohem Niveau bewegten sich auch die gesanglichen Leistungen. Massimo Giordano sang mit zwar ordentlich sitzendem, aber etwas eindimensionalem Tenor den Don Carlos. Darstellerisch hätte er ebenfalls etwas mehr aus sich herausgehen können. Mit tadellosem, hellem und höhensicherem Bariton gab Björn Bürger einen tadellosen Marquis Posa, der sich trefflich auf Differenzierungen und schöne Nuancierungen verstand. Einen prächtigen, sonoren und tiefgründigen Bass brachte Goran Juric für Philipp II mit, den er auch überzeugend spielte. Ihm war der kräftig und gut auf Linie singende Großinqusitor von Falk Struckmann ein ebenbürtiger Partner. Indes ist Struckmann mehr ein Bariton als ein Bass. In Michael Nagl s wunderbar tiefgründig und mit enormer Basssubstanz gesungenem Mönch kündigt sich bereits ein Philipp II an. Für diese Rolle hat es aber noch etwas Zeit. An diesem gelungenen Abend hat der noch junge Sänger sich jedenfalls nachhaltig für größere Rollen empfohlen. Er stellt eine der großen Hoffnungen im Bass-Fach dar. Eine in Mittellage und Tiefe sehr imposante und in der Höhe gewaltig auftrumpfende Eboli war Ksenia Dudnikova. Mit gut verankertem Sopran wertete Carina Schmieger die kleine Rolle des Thibault auf. Als Stimme vom Himmel überzeugte Claudia Muschio. Solide entledigte sich Christopher Sokolowski in der Doppelrolle des Grafen von Lerma und des königlichen Herolds seiner Aufgabe. Die Krone der Aufführung gebührte Olga Busuioc, die sich nahtlos in die Schar der ersten Vertreterinnen der Elisabeth einreihte. Sie verfügt über einen ungemein wohlklingenden, hervorragend fokussierten und farbenreichen Sopran, mit dem sie alle Register der anspruchsvollen Partie zog. Große dramatische Ausbrüche bewältigte sie ebenso elegant und mühelos wie lyrische und im zartesten Piano und Pianissimo gesungene Phrasen. Ihre Tongebung war durchweg warm, sehr innig und emotional angehaucht. Dieser grandiosen Sängerin steht eine ganz große Karriere bevor! Die wieder einmal grandios singenden Staatsopernchor Stuttgart und Extrachor der Staatsoper Stuttgart wurden von Manuel Pujol perfekt einstudiert.
Fazit: Ein in jeder Beziehung hochkarätiger Abend, der der Staatsoper Stuttgart zur großen Ehre gereicht.
Ludwig Steinbach, 4.11.2019