Stuttgart: „La Bohème“

Besuchte Aufführung: 13.1.2019, WA, Premiere: 30.5.2014

Kommerzialisierung des Kunstbetriebs oder Zerbrechen von Freundschaften

Zu einer sehr sehenswerten Angelegenheit geriet die Aufführung von La Bohème an der Staatsoper Stuttgart. Zu Recht spendete das zahlreich erschienene Publikum am Ende allen Beteiligten herzlichen Applaus. Auch mit der bereits aus dem Jahr 2014 stammenden Inszenierung zeigten sich die Besucher recht zufrieden. Die damalige Chefregisseurin Andrea Moses hat hier wirklich ganze Arbeit geleistet und ihr großes Können einmal mehr nachhaltig unter Beweis gestellt. Die spannungsgeladene, stringente Personenführung sowie das innovative Durchdringen zum Kern eines Werkes haben schon immer zu ihren Stärken gehört. Dies war auch an diesem äußerst gelungenen Nachmittag wieder spürbar. Sie hat der Bohème gekonnt ein modernes Gewand übergestreift und die dargestellten Konflikte zu Problemen unserer Zeit werden lassen.

Jarrett Ott (Marcello), Rodolfo

Nicht angetastet hat Frau Moses die Grundessenz der Oper. In den Mittelpunkt der Handlung stellt auch sie das tragische Geschehen um Liebe und Tod. In dieser Beziehung huldigt sie herkömmlichen Konventionen, vermeidet aber jegliches irgendwie geartetes Abgleiten ins Kitschige. Das tut dem Stück gut. Die große Angst Mimis vor dem Sterben erfährt bei ihr insbesondere im vierten Bild eine eindringliche Ausleuchtung. Außerdem kommt es der Regisseurin in erster Linie auf eine kritische Auseinandersetzung mit heutigen Künstlerschicksalen und dem modernen Kunstmarkt an, dessen komplexe und oft ziemlich fragwürdige Erscheinungsformen häufig zu einer Zerrüttung der künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten führen. Das Bühnenbild stammt von Stefan Strumbel. Die eigenwillige und zeitweilig reichlich hintersinnig wirkende Bildersprache des seit 2001 freischaffenden Pop-Art-Künstlers, der seine Ursprünge im Graffiti-Sprayen hat, verleiht der Produktion einen ganz spezifischen optischen Reiz. Unterstützt wurde er bei seiner Arbeit von Susanne Gschwender.

Rodolfo, Mimi

Andrea Moses und Stefan Strumbel harmonieren in ihren jeweiligen konzeptionellen Ansätzen hervorragend miteinander. Die desolaten Lebensverhältnisse heutiger Kunstschaffender werden von ihnen rigoros an den Pranger gestellt. Die Bohèmiens hausen in einem Hinterhof-Atelier, in das Strumbel offensichtlich visuelle Eindrücke aus seiner ersten Werkstatt in Offenburg hat einfließen lassen. Die von Anna Eiermann skurril eingekleideten Protagonisten sind Teil einer digitalisierten und technisierten Medienwelt. Deren Erzeugnisse wissen sie bestens zu nutzen. Damit gelingt es ihnen vorzüglich, sich auf dem stark überlaufenen Künstlermarkt besser zu verkaufen. Sie filmen sich ständig gegenseitig mit Video-Kameras und präsentieren die auf diese Weise festgehaltenen Ausschnitte aus ihrem Leben mit Hilfe zahlreicher Monitore der Kunstszene. Ein weiteres essentielles Element ihrer Behausung stellt eine Tonanlage dar, die ihnen behilflich ist, sich bei ihren Arien als Pop-Stars vor dem Mikrophon gehörig in Szene zu setzen. Manchmal haben sie damit Erfolg, manchmal nicht. Hier haben wir es mit einem ständigen Auf und Ab in dem gnadenlosen Kampf um künstlerische Anerkennung zu tun, das durch einen regen Wechsel von fließenden und stehenden Bildern auf den Fernsehschirmen trefflich ausgedrückt wird. Mal wird die Realität punktgenau übertragen, mal frieren die auf die Monitore projizierten Bilder ein.

Musetta, Jarrett Ott (Marcello)

Das in seiner bunten Opulenz stark überzeichnete Bild des von Paris auf den Stuttgarter Weihnachtsmarkt verlegten zweiten Bildes mit all seinen Nikolaus- und Engelsfrauen, Pinguinen, Eisbären, Schneehasen, Party-Service-Vertretern, einer Pfauendame und einem Transvestiten sowie der sommerlich leicht und farbig gekleideten Kinderschar wird zum Sprachrohr für die durchaus angebrachte Konsumkritik von Regisseurin und Bühnenbildner. Mit dem Mercedes-Stern als Krone eines Weihnachtsbaumes und einer ausgeprägten, in der Luft schwebenden und rötliches Fleisch ausspuckenden Spätzlepresse mit der Aufschrift Heilig’s Blechle nimmt Stefan Strumbel augenzwinkernd die schwäbischen Markenzeichen auf die Schippe. Diese Eindrücke atmen ganz den Geist des Bühnenbildners. Viele dieser Motive kennt man von ihm bereits. Und sein schon oft ins Feld geführtes Lieblingsthema Heimat wird auch hier wieder zu Genüge thematisiert. Dass er seine Heimat liebt, verkünden im dritten Bild Schriftzüge an Wänden und Containern. Bezogen auf den Ansatzpunkt von Andrea Moses meint dieser Einfall das Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Kunstbegriff.

Solisten, Chor und Statisterie der Staatsoper Stuttgart

Die Bohèmiens verteidigen ihre jeweilige künstlerische Heimat mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Heimat bedeutet für sie Freiheit. Es erscheint nur konsequent, dass die Freunde sich auch politisch engagieren. Politik und Kunst sind in dieser Inszenierung eng miteinander verbunden. Da ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass die Handlungsträger am Ende des zweiten Bildes in einen Terrorakt geraten und in der Folge Bekanntschaft mit der Polizei machen. Die Gefahr, in der Gosse oder im Rotlicht-Milieu zu landen und damit ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, ist groß. Daran lässt die Regisseurin keinen Zweifel, wenn sie im dritten Bild die Prostituierten in einem regelrechten Müllcontainer hausen lässt – und gerade in demjenigen, auf dem Strumbels Heimat-Postulat prangt. Die soziale Tristesse erreicht im vierten Bild ihren Höhepunkt. Hier hat die Produktion ihre stärksten Momente. Die Einrichtung der Heimstatt der vier Männer ist im Vergleich zum ersten Bild ziemlich reduziert. Sie haben nicht nur viele ihrer Habseligkeiten verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Gekonnt hat Frau Moses ihr Atelier zudem in ein karg und kühl wirkendes Museum integriert, in dem die Bohèmiens die Hauptattraktion bilden. In dem Konglomerat von öffentlichem und privatem Raum werden sie gleichsam zu lebenden Bildern einer Ausstellung unter dem Titel La vie de Bohème, die von den Besuchern neugierig beäugt werden.

Jede Art von Privatsphäre ist nun völlig aufgehoben. Sogar Mimis Sterben auf einem schlichten Sofa findet unter den neugierigen Augen einer gaffenden Öffentlichkeit statt. Mehr noch als das verblichene körperliche Original erringt das zunächst farbige, mit ihrem Tod schwarz-weiß gewordene, auf eine riesige Leinwand projizierte Photo von Mimis Gesicht die Aufmerksamkeit der Museumsbesucher. Kaum hat sie ihre Seele ausgehaucht, wird das Bild auch schon verkauft. Davon zeugt ein roter Punkt in dessen rechter unterer Ecke. Die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs macht sogar vor dem Tod nicht halt, genau wie sie bereits vorher die essentiellen Festen menschlichen Zusammenlebens gewaltig erschütterte. Rodolfo hat nicht nur die ihn inspirierende Muse verloren. Das Zerbrechen von Freundschaften und das Auseinanderleben von Gemeinschaften sind die Folge – ein stark unter die Haut gehendes Ende. Das war alles sehr überzeugend. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme besorgte Carmen C. Kruse.

Hoch zufrieden sein konnte man auch mit den gesanglichen Leistungen. Olga Busuioc sang mit prächtig gestütztem, kräftigem und wandelbarem Sopran eine großartige Mimi, die sie auch ansprechend spielte. Neben ihr bewährte sich mit tadellos ansprechendem, hellem und nuancenreichem Tenor Pavel Valuzhin in der Rolle des Rodolfo. Mit sonorem, bestens fokussiertem Bariton verlieh Jarrett Ott dem Marcello erhebliches vokales Gewicht. Frisches, gut sitzendes Sopranmaterial brachte Josefin Feiler für die Musetta mit, der sie darstellerisch eine recht kokette Note verlieh. Mit prachtvollem, obertonreichem und farbigem Bass stattete Goran Juric den Colline aus.

Angenehmes Bariton-Material brachte Andrew Bogard für den Schaunard mit. Mit pastoser Bassstimme wertete Matthew Anchel die kleine Partie des Benoit auf. Als Alcindoro gefiel Siegfried Laukner. Den Parpignol gab zufriedenstellend Metodi Morartzaliev. Heiko Schulz (Sergeant), Tommaso Hahn-Fuger (Zöllner) und Juan Pablo Marin (Pflaumenverkäufer) rundeten das homogene Ensemble ab. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart und der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Am Pult gefiel Kapellmeister Thomas Guggeis. Zusammen mit dem prächtig disponierten und versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart zog er jede Facette von Puccinis vielfältiger Partitur. Dabei betonte er gekonnt das Emotionale, ohne dabei jemals ins Sentimental-Kitschige zu geraten. Den Sängern war er ein umsichtiger Begleiter.

Fazit: Eine prachtvolle Aufführung, die noch lange in Erinnerung bleiben wird. Der Besuch ist sehr zu empfehlen!

Ludwig Steinbach 15.1.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund