Stuttgart: „Ariodante“

Besuchte Aufführung: 1.12.2018 (Premiere: 5.3.2017)

Kollabieren herkömmlicher Theaterstrukturen

Zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten geriet die Aufführung von Händels „Ariodante“ an der Staatsoper Stuttgart. Das war rein szenisch ein Abend, wie man ihn nicht so schnell wieder vergisst. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Ihre Regiearbeit war sehr ausgeprägt, stringent, spannend sowie von einem perfekten Timing und vielen komödiantischen Effekten geprägt. Langweilig wurde es an diesem gelungenen Abend wahrlich nie. Alles wirkte wie aus einem Guss. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Anika Rutkofsky.

Ana Durlovski (Ginevra), Diana Haller (Ariodante)

Aus der Taufe gehoben wurde der Ariodante im Jahr 1735 in London. Er stellt eine der letzten und gleichzeitig schönsten Opern Händels dar. Da dieses Werk nicht allgemein bekannt ist, seien einige Worte zum Inhalt erlaubt: Geschildert wird eine Episode aus Ludovico Ariosts Orlando furioso, zu deutsch Der rasende Roland. Der Ritter Ariodante und die schottische Prinzessin Ginevra sind ineinander verliebt und wollen heiraten. Polinesso, der Herzog von Albany, ist ebenfalls in die Königstochter verliebt und begehrt sie für sich. Dass sie ihn knallhart abweist, kann er nicht ertragen und ersinnt eine Intrige. Zusammen mit der ihn liebenden Hofdame Dalinda versucht er das Paar auseinander zu bringen. Das hat schlimme Folgen. Ariodante will sich selbst töten und Ginevra soll nach dem Schottischen Gesetz hingerichtet werden. Zu guter Letzt deckt die reuige Dalinda alles auf. Polinesso fällt im Kampf um Ginevras Ehre mit Ariodantes Bruder Lurcanio. Insgesamt handelt es sich hier um eine relativ einfach gestrickte Geschichte, die von Wieler und Morabito ausgesprochen innovativ und packend in Szene gesetzt wird. Historische Bezüge zu Schottland spielen in ihrer überzeugenden Interpretation keine Rolle. Ihre Konzeption ist mehr geistiger Natur.

Ihr Ansatzpunkt liegt in dem von Bertolt Brecht kreierten Grundsatz des Theaters auf dem Theater. Am Anfang des Stücks sieht man die Mitglieder eines zeitgenössischen Theaterensembles auf die von Nina von Mechow – von ihr stammen auch die ansprechenden Kostüme – errichtete Bühne kommen und sich in modernen Trainingsanzügen dem Auditorium präsentieren. Die Zuschauer sollen ins Theater gehen wie in eine Sportveranstaltung. Auch das war eine Forderung von Brecht, die die beiden Regisseure gekonnt umsetzen. Hier haben wir es mit Schauspielern zu tun, die ihre jeweilige Rolle erst noch finden müssen. Schließlich ziehen sie sich um und verwandeln sich in die ihnen zugedachten Charaktere. Die Verteilung der Rollen ist auf einem in luftigen Höhen schwebenden Video-Kubus abzulesen, dem im Verlauf des Abends noch weitere Bedeutung zukommt. In ihm spiegelt sich das Publikum, dem Wieler und Morabito auf diese Weise den sprichwörtlichen Spiegel vorhalten, in demselben Maße wider wie die handelnden Personen in einem im rechten Bereich der Bühne aufgestellten dreigliedrigen Reflektionsglas. Die hier abgehandelten Probleme und Konflikte betreffen uns alle.

Ana Durlovski (Ginevra), Matthew Brook (König)

Sie werden in einer von einem Lamellenvorhang begrenzten Arena ausgetragen, auf die sich auch mal eine riesige Scheinwerferanlage hinabsenkt, an der Ariodante sogar erheiternde Klimmzüge veranstalten darf. Später werden auch Ginevra und Dalinda von Polinesso nacheinander daran festgebunden. Der Kampf zwischen Lurcanio und dem intriganten Herzog findet in einem Boxring statt. Auf- und Abgänge erfolgen manchmal durch den hochgefahrenen Orchestergraben, der mit der Bühne durch Stufen verbunden ist. Als Ariodante nach seiner wunderbaren Arie Scherza, infida auf diesem Weg abgeht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, er wolle, von der angeblichen Untreue Ginevras bewogen, aus dem Stück aussteigen. Seinem Selbstmordversuch ist indes kein Erfolg beschieden und er kehrt zurück. Dabei wird häufig der gesamte Zuschauerraum in gleißendes Licht gehüllt. Damit wird eine Nähe zwischen den Handlungsträgern und dem Publikum hergestellt. Es ist eben alles nur Theater.

Und genau darum geht es dem schon oft bewährten Regieduo. Nachhaltig stellen sie die Frage, was Theater damals und heute zu bedeuten hat und welche Folgen daran geknüpft sind. Wenn die Sängerin der Ginevra zu Beginn als Mann mit Schnurrbart auftritt, in der Folge oftmals ihre Langhaarperücke abnimmt und sich im Kurzhaarlook präsentiert, sind mit diesem Regieeinfall die Verhältnisse in der Händel-Zeit gemeint, in der im Theater Männer auch mal Frauen darstellten und männliche Protagonisten zeitweilig mit Frauen besetzt waren. Das war auch beim Ariodante so. Händel hat die Titelfigur für einen Kastraten und den Polinesso für einen Mezzosopran geschrieben. In Stuttgart singt der Mezzo den von der Regie wohl bewusst ziemlich weiblich gezeichneten Ariodante und ein Countertenor den Polinesso. Die Zeiten haben sich geändert. Das wird auch an den Kostümen offenkundig, die aus verschiedenen Epochen stammen und denen in dieser Produktion zentrale Relevanz zukommt. Durch sie wird das theaterhafte Spiel mit den Identitäten symbolisiert, das sich durch die gesamte Aufführung zieht und das die Regisseure insbesondere an der Figur der Ginevra festmachen. Ihr Identitätsraub ist es ja auch, der im Zentrum des dramatischen Geschehens steht. Dadurch werden sämtliche Koordinaten einer Änderung unterworfen.

Ana Durlovski (Ginevra), Matthew Brook (König)

Den größten Anteil daran hat Polinesso, der von Wieler und Morabito als Spiritus Rector dargestellt wird, der die Fäden in der Hand hält und während der Divertissements Ausschnitte aus Rousseaus Brief an d’Alembert über das Schauspiel vorliest. Der ist sehr heftig, in erster Linie deshalb, weil er die Schauspielerin in ihrer angeblichen Schamlosigkeit auf eine Stufe mit Prostituierten stellt. In ihm betont Rousseau ferner, dass die Errichtung eines Theaters auch gesellschaftlichen Folgen nach sich ziehe. Dalinda darf ebenfalls einmal aus Rousseaus theaterkritischer Schrift zitieren. Mit dem Umweg über Rousseau prangern die beiden Regisseure das gesamte Theater-, Schmink- und Kostümwesen an. Seine Destruktivität wird klar ersichtlich. Dabei ist das Ganze voll und ganz gegen die Frauen gerichtet, gegen jede Art von Lust und Sinnlichkeit des Theaters. Für Theaterschaffende ist es schwierig, sich unter diesen Umständen eine neue Identität zuzulegen. Auch in dieser Inszenierung ist ihnen damit nicht wirklich Erfolg beschieden. Am Ende stehen sie in Kostümen der Händel-Zeit erneut vorne an der Rampe, was verglichen mit ihrem Sportdress des Beginns einen Rückschlag bedeutet. Der im Kampf gefallene Polinesso darf ins Leben zurückkehren, verlässt die Loge im ersten Rang, aus der er den letzten Rousseau-Text zum Besten gegeben hat, und mischt sich wieder unter die anderen Beteiligten. Er wird freundlich aufgenommen. Zuvor hat er immer wieder versucht, die Realität des Theaters mit einer Kamera einzufangen. Die von ihm gemachten Photos sollten wohl der Erinnerung an alte Zeiten dienen. Die herkömmlichen Theaterstrukturen sind in dieser Deutung zum Scheitern verurteilt und kollabieren. Zum Schluss herrscht nur scheinbar eitel Sonnenschein, denn das Regieduo misstraut dem zur Händel-Zeit obligaten lieto fine: Ginevra geht sehr angeschlagen aus der ganzen Geschichte hervor. Das war alles sehr überzeugend und perfekt umgesetzt.

Diana Haller (Ariodante)

Von den Sängern konnte in erster Linie Diana Haller überzeugen, die mit wunderbar tiefsinnigem Ausdruck und sehr emotional einen ausgezeichneten Ariodante sang. Sowohl die vielfältigen gefühlvollen Momente als auch die perlenden Koloraturen waren bei ihrem hervorragend fokussierten Mezzosopran in besten Händen. Auch Ana Durlovski wusste mit phantastisch gestütztem, warmem und koloraturgewandtem Sopran in der Partie der Ginevra voll und ganz zu begeistern. Die über einen frischen, gut sitzenden Sopran verfügende Josefin Feiler als Dalinda hinterließ ebenfalls einen mächtigen Eindruck. Auch darstellerisch vermochte sie gänzlich zu überzeugen. Bemerkenswert ist, dass sie keine Hemmungen hatte, sich dem Publikum auch mal in Unterwäsche zu präsentieren. Den Polinesso sang mit nicht gerade ansprechendem, stark auf der Fistelstimme beruhendem Countertenor Yuriy Mynenko. Einen variablen Stimmsitz brachte Kai Kluge in die Rolle des Lurcanio ein. Sein Tenorkollege Christopher Sokolowski war ein ordentlich singender Odoardo. Solide anzuhören war der König von Matthew Brook.

Eine treffliche Leistung erbrachten Christopher Moulds am Pult und das versiert aufspielende Staatsorchester Stuttgart. Was heuer aus dem Orchestergraben tönte, erinnerte nicht so sehr an die Händel-Zeit als vielmehr an die Romantik. Der von Dirigent und Musikern erzeugte Klangteppich war darüber hinaus ausgesprochen intensiv und emotional.

Fazit: Eine durchaus zu empfehlende Aufführung, die die Fahrt nach Stuttgart wieder einmal voll gelohnt hat

Ludwig Steinbach, 3.12.2018

Die Bilder stammen von Christoph Kalscheuer