Stuttgart: „La Cenerentola“

Besuchte Aufführung: 19.1.2019, WA, Premiere: 30.6.2013

Kapitalismuskritik und die Problematik des Entwurzeltwerdens

Um das Fazit vorwegzunehmen: Diese Cenerentola war ein rundum gelungener, geradezu preisverdächtiger Abend, der die Fahrt nach Stuttgart trotz Winterwetters voll und ganz gelohnt hat. Das begeisterte Publikum feierte am Ende alle Beteiligten mit stürmischem Applaus. Und das zu Recht. Hier haben wir es mit einem Meilenstein in der Stuttgarter Operngeschichte zu tun, der sich hoffentlich noch recht lange auf dem Spielplan der Staatsoper halten wird. Deren ehemalige Chefregisseurin Andrea Moses hat das Werk Rossinis mit seinen vielfältigen Verkleidungen, Verwicklungen und Verwechslungen äußerst kurzweilig, lebendig und mit zahlreichen lustigen Elementen garniert geradezu funkensprühend auf die Bühne gebracht. Frau Moses, die sonst eher eine Spezialistin für ernste Stoffe ist, hat mit dieser absolut erstklassigen Regiearbeit bewiesen, dass sie auch ein ausgezeichnetes Händchen für komische Opern hat. Heiterkeit pur war an diesem Abend angesagt, der nicht zuletzt aufgrund der ausgezeichneten, konsequent durchgezogenen und an keiner Stelle erlahmenden Personenregie wie im Fluge verging und beredtes Zeugnis von den enormen Fähigkeiten der Regisseurin ablegte. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Philine Tiezel und Maurice Lenhard, die bei der Neueinstudierung ebenfalls erstklassige Arbeit geleistet haben. Auffällig gegenüber der Premierenserie vor sechs Jahren war, dass die vergnügliche Pauseneinlage von Tisbe und Clorinda stark erweitert wurde.

Maria Theresa Ullrich (Tisbe), Enzo Capuano (Don Magnifico), Catriona Smith (Clorinda), Diana Haller (Angelina)

Der Begriff Es war einmal spielt bei Andrea Moses keine Rolle mehr. Sie misstraut dem auf die Gebrüder Grimm zurückgehenden Märchenstoff und siedelt das Ganze kurzerhand in der Gegenwart an. Dabei rückt sie aber nicht Cenerentola, sondern den von Werner Pick mit eleganten Anzügen ausgestatteten Aufsichtsrat eines Konzerns, in dem auch zwei Damen – verkleidete männliche Chorsänger – sitzen, in das Zentrum des Geschehens. Dessen runder Tisch dient den Handlungsträgern oftmals als Spielfläche. Diese geschniegelte, von der Regisseurin sehr individuell gezeichnete Herrenliga hat ernstlich Sorgen, da ihr Konzern nach dem Tod des alten Chefs führerlos geworden ist. Und ein derart großes Finanzunternehmen wäre ohne ein Oberhaupt verloren. Also muss auf schnellstem Wege der Erbe, ursprünglich der Prinz Don Ramiro, her. Der taucht auch umgehend auf und wird sogleich mit der Voraussetzung für die Berufung zum Konzernleiter konfrontiert: Er muss heiraten. Die Frage ist nur, wie das anzustellen ist. Der junge Erzieher des Prinzen, Alidoro, weiß Rat. In einer unterhaltsamen Stummfilm-Adaption während der Ouvertüre wird der Plan des Philosophen mit Hilfe von auf den Hintergrund projizierten Sprechtexten dem Auditorium vor Augen geführt. Alidoro ist der Urheber und spiritus rector der im Folgenden über die Bühne gehenden herrlichen Komödie. Die präsentiert sich hier als Theater auf dem Theater – ein nicht mehr neues, aber immer wieder recht effektives Mittel, das die geistige Nähe von Andrea Moses zu Bertolt Brecht offenkundig werden lässt.

Petr Nekoranec (Don Ramiro), Diana Haller (Angelina)

Dazu wird die von Susanne Gschwender errichtete, etwas heruntergekommene und mit den Interieurs unterschiedlicher Zeitalter eingerichtete Wohnstube von Don Magnifico und seinen drei Töchtern hereingefahren. Genau auf der Tafelrunde des Aufsichtsrats macht sie Halt und gibt den um den Tisch versammelten geschniegelten Lackaffen die Gelegenheit, dem Treiben um Cenerentola gleichsam von einer Zuschauerwarte aus beizuwohnen. Im Folgenden wird das Mädchen, das eigentlich Angelina heißt, von den strengen Herren auf seine Tauglichkeit untersucht, die Frau des Konzernerben zu werden und auf diese Weise die alten Machtstrukturen des Betriebs mit fortzuführen. Die Voraussetzung dafür ist echte Herzensgüte, über die Cenerentola zweifelsfrei verfügt. Andererseits hat sie etwas dagegen, so ohne weiteres aus ihrem gewohnten Dasein gerissen zu werden, auch wenn das für sie einen gesellschaftlichen Aufstieg nach sich zieht. Das ausladende rote Kleid sowie die kostbaren Armreife, die hier an die Stelle der Schuhe bei den Gebrüdern Grimm treten, stören sie nicht. Sie fühlt sich aber in ihrem pinkfarbenen Pullover und ihren Jeans wohler und tut sich nicht leicht damit, ihr altes Leben aufzugeben. In der Tat fügt sie sich nur schwer in die ihr zugedachte Rolle. Viel lieber als schick gewandet auf Bälle der High Society zu gehen sitzt sie zu Hause und singt, wenn sie nicht gerade von ihren Stiefschwestern und ihrem skurrilen Vater, der zu Beginn gerade von der Toilette kommt, getriezt wird, immer wieder dasselbe schwermütige alte Lied. Dass die Luft in ihrem Zuhause nicht gerade angenehm ist, scheint ihr nichts auszumachen. Die Nase von Don Ramiro, der den Mief weniger gut erträgt, ist da schon empfindlicher. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht weiter, dass sich die Sozialwohnung unmittelbar vor Cenerentolas Verwandlung in eine elegante Dame in den Hintergrund verabschiedet. Angelina versucht noch, das geliebte Heim aufzuhalten, läuft ihm nach und klammert sich verzweifelt daran. Ihren Bemühungen ist indes kein Erfolg beschieden. Sie muss sich dem Willen des Strippenziehers Alidoro fügen. Bei Andrea Moses ist Cenerentola genau wie Don Ramiro somit nur eine Marionette in einem groß angelegten Machtspiel um die Sicherung des Fortbestandes des Konzerns, der sogar einen etwas zu laut über die Szene fliegenden Hubschrauber sein Eigen nennt. Geld regiert eben die Welt. Den Mächtigen muss man zu Willen sein, auch wenn diese eine fragwürdige Doppelmoral aufweisen und im Laufe des ausgelassenen Betriebsfestes, bei dem Tisbe über eine über den Orchestergraben führende Brücke in das Parkett geht und den Zuschauern kleine Kuchen anbietet – hier lässt Bertolt Brecht wieder grüßen – gerne die Hosen fallen lassen und sich mit dem sich ebenfalls mancher Hüllen entledigenden weiblichen Servierpersonal vergnügen. Diese Szene war ausgesprochen spaßig. Die Mitglieder des Betriebsrates dürfen sich in Brecht’scher Manier ebenfalls mal unter das Publikum mischen.

Petr Nekoranec (Don Ramiro), Maria Theresa Ullrich (Tisbe), Jarrett Ott (Dandini), Catriona Smith (Clorinda), Diana Haller (Angelina), Staatsopernchor Stuttgart

Dass sich Angelina in ihrer neuen Haut nicht sonderlich wohl fühlt, wird erneut spürbar, als sie sich nach ihrer Rückkehr vom Ball in ein Schaumbad flüchtet, aus dem sie sich später auch erheben darf. Das Ende bestreitet sie wieder in ihrem gewöhnlichen Alltags-Outfit. Zwar willigt sie in die Heirat mit Don Ramiro ein, hat aber überhaupt kein Interesse an dem eleganten Hochzeitskleid und dem riesigen Brautschleier, die ihr offeriert werden. Frau Moses wartet sodann mit einem Happy End auf. Hinter dieses ist aber ein großes Fragezeichen zu setzen. Cenerentola bleibt sie selbst. Ihre Fremdbestimmtheit wird mit der Hochzeit nicht enden. Sie und ihr Göttergatte werden auch künftig dem bestimmenden Einfluss des mit Zauberkräften ausgestatteten – das Gewitter wird von ihm heraufbeschworen – eigentlichen Konzernleiters Alidoro unterworfen sein. Es ist nur zu verständlich, dass sie da erst mal das Weite suchen. Diese temporeich vorgeführte Kapitalismuskritik, die auch die Problematik des Entwurzeltwerdens thematisiert, schärft den Blick für so manchen Missstand des gegenwärtigen Wirtschaftslebens, in dem individuelle Wünsche und Sehnsüchte häufig auf der Strecke bleiben und Faktoren des Geschäfts- und Finanzlebens alles und jeden dominieren. Dass die Regisseurin nicht mit Brachialgewalt, sondern augenzwinkernd und humorvoll den Finger auf diese Wunde der modernen Kapitalgesellschaft legt, ist ihr hoch anzurechnen und macht die enorme Begeisterung des Publikums durchaus nachvollziehbar. Bravo!

Diana Haller (Angelina), Jarrett Ott (Dandini), Petr Nekoranec (Don Ramiro)

Fast durch die Bank zufrieden sein konnte man auch mit den Sängern. Eine absolute Glanzleistung erbrachte Diana Haller in der Rolle der Cenerentola, die sie mit trefflich fokussiertem, emotionalem und sehr koloraturgewandtem Mezzosopran nicht nur ausgezeichnet sang, sondern mit trefflicher schauspielerischer Ader auch darstellerisch ein sehr ansprechendes Profil verlieh. Ihr hohes Niveau wurde von dem dünn und ohne die nötige Körperstütze singenden Don Ramiro von Petr Nekoranec nicht erreicht. Da war Pawel Koniks ausgesprochen sonor, tiefgründig und gut gestützt singender Alidoro um Längen besser. Mit enormer Spiellust, einer ausgeprägten komödiantischen Ader und untadeligem Bass machte Enzo Capuano aus dem Don Magnifico ein wahres Kabinettstückchen. Einfach köstlich waren die beiden Stiefschwestern Cenerentolas. Catriona Smith (Clorinda) und Maria Theresa Ullrich (Tisbe) warteten mit ausgelassenem Spiel, einer ausgeprägten Mimik und perfekt fundierten Stimmen auf, die die große Zustimmung der Besucher in hohem Maße gerechtfertigt erscheinen ließen. Gut gefiel Jarrett Ott, der mit angenehmem lyrischem Bariton den Dandini sang. Ein Extralob gebührt den von Bernhard Moncado einstudierten Herren des Staatsopernchors Stuttgart, die bei der Darstellung des Aufsichtsrats einfach alles gaben und an der Erfüllung ihrer Aufgabe sichtbar Vergnügen hatten.

Ein großer Erfolg war auch Vlad Iftinca am Pult und dem ausgelassen und lustvoll aufspielenden Staatsorchester Stuttgart beschieden. Hier hatten wir es mit Rossini vom Feinsten zu tun. Das Perlende, Schmissige und Spritzige der Partitur wurde von Dirigent und Musikern aufs Beste dargeboten. Die Sänger haben sich unter Iftincas versierter Leitung insbesondere bei den großen Ensembleszenen sichtbar wohl gefühlt.

Ludwig Steinbach, 20.1.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund