Stuttgart: „Medea“

Besuchte Aufführung: 8.12.2017, (Premiere: 3.12.2017)

Gesellschaftsstudie, Kapitalismuskritik und Ökotragödie

Eine Parabel auf gesellschaftliche Vorgänge stellt Peter Konwitschny s Neuinszenierung von Luigi Cherubinis „Medea“ an der Staatsoper Stuttgart dar. Wie immer, wenn dieser geniale Regisseur am Werk ist, war es ein Abend, den man nicht so schnell wieder vergisst. Hier haben wir es mit hochkarätigem Musiktheater zu tun, das gleichermaßen begeisterte und beklommen machte. Konwitschny hat es wieder einmal vorzüglich verstanden, den Zuschauer ganz in seinen Bann zu ziehen und mit theatralischen Mitteln auf Probleme der Gegenwart hinzuweisen. Wenn er hier und da mal im Saal das Licht angehen lässt, wird deutlich, dass die auf der Bühne verhandelten Probleme und Konflikte uns alle betreffen. Insgesamt geht er sehr sensibel auf die Zwischentöne von Gefühlen, Liebe und Wut ein. Diese werden von ihm mit großer Akribie umgesetzt. Seine Personenregie ist erneut in hohem Maße spannend, stringent und packend. Nichts anderes hat man von Regiealtmeister Konwitschny erwartet.

Sebastian Kohlhepp (Iason), Cornelia Ptassek (Medea)

Er und sein Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker haben das Stück hervorragend durchdacht und in eindringlichen Bildern auf die Bühne gebracht. Wenn das Publikum den Zuschauerraum betritt, fällt der Blick zunächst auf den Vorhang, auf dem ein wunderschönes Ägäis-Motiv aufgemalt ist. Sobald sich dieser hebt, wird der Eindruck indes recht ernüchternd. Dem Blick erschließt sich eine schmutzige Küche, in der modern gekleidete Leute wie Du und ich ihr Wesen treiben. Wenn im dritten Akt die Wände auf einmal verschwunden sind, erweist sich, dass wir es hier mit einem Floß zu tun haben, dessen Spitze in bedrohlicher Art und Weise über den Orchestergraben ragt. Die Welt ist augenscheinlich aus den Fugen geraten. Es gibt keinen Halt mehr. Hier sitzt während der psychologisch gedeuteten Gewittermusik Medea und isst einen Apfel – ein ungemein einprägsames Bild. Das Meer rund um das Floß ist mit Plastikmüll bedeckt. Immer wieder wirft das Volk neuen Abfall in das Meer. Die hier vorliegende Ökokatastrophe hat es selbst verschuldet.

Sebastian Kohlhepp (Iason)Cornelia Ptassek (Medea)

Auch sonst lässt Konwitschny kein gutes Haar an dieser doch sehr fragwürdigen, stets gut gelaunten Gesellschaft, die von dem ein wenig Elvis Presley gleichenden Schlagerstar Kreon beherrscht wird und ein äußerst fragwürdiges Konsumverhalten an den Tag legt. Im Party machen sind diese zeitgenössisch gekleideten Leute ganz groß. Sie betrinken sich und gefallen sich darin, auf Konfrontationskurs zu den von der Regie als Außenseiter dargestellten Ausländern zu gehen. Toleranz kennt dieses Volk nicht. Die mannigfaltigen Hochzeitsgeschenke, die Boten im ersten Akt bringen, sind dann auch eher für die Königstochter Kreusa bestimmt als für den Fremdling Iason. Die Verpackungen, in die die Präsente eingewickelt waren, werden achtlos beiseite geworfen und bleiben dann den ganzen Abend über auf der Bühne liegen. Der Eindruck einer Müllhalde verstärkt sich auf diese Weise noch. Hier wird vom Regisseur auf eindringliche Art und Weise Kritik an dem fragwürdigen Konsumverhalten einer Gesellschaft geübt, die anscheinend keine höheren Werte mehr aufweist, brutal mit Schlagstöcken hantiert und von den Verhältnissen geradezu deformiert wurde. Kein Wunder, dass die Männer karikaturistische Züge aufweisen. Kapitalismuskritik und Gesellschaftsstudie waren schon immer ein Lieblingsthema von Konwitschny. Und auch hier führt er dieses Steckenpferd sehr gekonnt vor. Sein Warnruf, mit unserer Umwelt pfleglicher umzugehen, schallt unüberhörbar in den Raum. Endzeitstimmung macht sich breit.

Cornelia Ptassek (Medea), Sebastian Kohlhepp (Iason)

Es ist schon ein sehr negatives Bild, das der Regisseur hier von dem Volk zeichnet. Medea wird zum Opfer dieser patriarchalischen Gesellschaft. Dass Konwitschny in ihr also nicht nur die Täterin sieht, die grausam ihre Kinder ermordet, ist eine der bemerkenswertesten Komponenten der Produktion. Bei ihm sind es die Gesellschaft und die Macht der Masse, die Medea zum Kindermord treiben. Die Kinder werden in Konwitschnys Inszenierung stark aufgewertet. Sie sind fast stets präsent und dürfen sogar einmal singen, was im Original von Cherubini nicht der Fall ist. Mit ihrer Mutter kann man regelrecht Mitleid bekommen. Als Außenseiterin hat sie in dieser verkommenen Gesellschaft keine Chance. Da mag sie Kreon, mit dem sie einmal sogar Oralsex hat, noch so inbrünstig um eine Gnadenfrist anflehen. Hier ist sie weniger Rächerin als vielmehr die Liebende. Einfühlsam zeigt Konwitschny den Weg auf, der sie zur Tötung ihrer Kinder führt, und betont, dass sich etwas ändern muss. Nachhaltig mutiert dabei das Private zum Politischen. Die beiden Kinder sind Ausdruck der ehemals großen Liebe von Medea und Iason, aber ebenso Angehörige einer Generation, die noch in anrüchigen alten Werten verankert ist. Damit eine Änderung eintreten kann, müssen sie sterben. Das hat Medea gut erkannt. Am Ende eskaliert der Fremdenhass der Korinther: Medea, Iason und Neris werden in einem regelrechten Massaker umgebracht. Dieser Schluss ist sehr pessimistisch. Die Gesellschaft wird sich nie ändern. Das ist traurig, aber wahr.

Cornelia Ptassek (Medea), Helene Schneiderman (Neris)

Gesungen wurde leider nicht in der französischen Originalsprache, sondern in einer von Bettina Bartz und Werner Hintze eigens für die Oper Stuttgart geschaffenen deutschen Textfassung. Auf die von Lachner nachkomponierten Rezitative wurde verzichtet. An deren Stelle traten sehr modern anmutende, stark gekürzte Dialoge, die Konwitschny höchstpersönlich eingerichtet hatte. Diese Vorgehensweise war nicht sehr glücklich, litt doch die Stilistik erheblich unter der deutschen Übersetzung, die darüber hinaus etliche Ecken und Kanten aufwies. Der Regisseur wollte damit eine größere Verständlichkeit des Inhalts erreichen. Angesichts der deutschen Übertitel geht diese Argumentation jedoch ins Leere. Man wäre besser beim Französischen geblieben. Das aufgebotene Ensemble war zum großen Teil überzeugend. Ausgesprochen gut gefiel Cornelia Ptassek in der Rolle der Medea. Ihre wilden roten Haare und ihr langer dunkler Soldatenmantel verliehen ihr einen wilden, ja fast dämonischen Charakter. Den Spagat zwischen Rache und Liebe hat Frau Ptassek auf beeindruckende Art und Weise ausgespielt. Und auch stimmlich war sie mit ihrem bestens fokussierten, wandelbaren und ausdrucksstarken dramatischen Sopran sehr ansprechend. Ihr hohes Niveau vermochte der zwar gut spielende, mangels solider Körperstütze gesanglich aber nicht gefallende Iason von Sebastian Kohlhepp nicht zu erreichen. Einen trefflichen Eindruck hinterließ Shigeo Ishino, der einen sonoren, volltönenden Bariton für den Kreon mitbrachte. In der Partie der Kreusa gefiel die junge, aber bereits jetzt über famose stimmliche Mittel verfügende Josefin Feiler. Helene Schneidermann wertete mit schönem lyrischem Mezzosopran und sauberer Linienführung die kleine Rolle der Neris auf. Als Brautjungfern gefielen Adife Gibney und Fiorella Hincapie. Einen beherzten Eindruck hinterließen die beiden Kinder Ariles Slimani und Jasper Meyer-Eggen. Wie immer auf hohem Niveau präsentierte sich der von Christoph Heil einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Cornelia Ptassek (Medea)

Am Pult ging Alejo Pérez recht differenziert vor. Mit sicherer Hand entlockte er dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart recht nuancierte und vielschichtige Töne. Vor allem die leisen und zurückgenommenen Stellen vermochten zu gefallen, aber auch bei den mehr dramatischen, zupackenden Passagen zeigte er sich ganz in seinem Element.

Fazit: Bravo Konwitschny! Ein spannender Opernabend, der sich voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 9.12.2017

Die Bilder stammen von Thomas Aurin.