Stuttgart: „Rusalka“

Besuchte Aufführung: 16.6.2022 (Premiere: 4.6.2022)

Die Stunde der Drag-Queens

Trailer

Ungefähr vierzig Jahre war Antonin Dvoraks Oper Rusalka an der Staatsoper Stuttgart nicht mehr zu sehen gewesen. Also war es höchste Zeit für eine Neuinszenierung. Seit dem 4. Juni ist das Werk nun wieder in der württembergischen Landeshauptstadt zu erlebenen. Und um es vorwegzunehmen: Der Besuch der Aufführung am Fronleichnamstag erwies sich als sehr lohnend. Sowohl szenisch als auch musikalisch und gesanglich bewegte sich der Abend auf hohem Niveau. Das begann schon bei der gut durchdachten, farbenprächtigen Inszenierung von Bastian Kraft in dem Bühnenbild von Peter Baur und den Kostümen von Jelena Miletic, die sowohl moderne Naturen als auch konventionell eingestellte Gemüter zufriedenstellen kann. Beiden Geschmäckern wird hier seitens des Regieteams glänzend entsprochen. Die Gratwanderung, die Kraft hier vollführt, ist sehr ansprechend.

Überzeugend war der Ansatzpunkt des Regisseurs, die Oper in das Umfeld von Travestie und Drag zu verlegen. Diese Herangehensweise von Kraft hat sich im Lauf des gelungenen Abends glänzend bewährt. Diese Idee war nicht irgendwie willkürlich geartet, sondern resultierte aus Krafts Überlegung, dass sämtliche in dem Werk vorkommenden Wasserwesen bezüglich ihrer Geschlechtlichkeit außerhalb der Norm stehen. Aus diesem Grund nimmt er eine Zweiteilung der Partien von Rusalka, dem Wassermann, der Jezibaba und der Elfen vor. Er spaltet sie gekonnt in Sänger und Drag-Queens auf. Das ist ein vollauf gelungener Einfall. Das Gesangspersonal und die Travestie-Künstler sind dabei zunächst noch räumlich voneinander getrennt. Im ersten Akt gehört der untere Bereich der Bühne den Drag-Queens. Dominiert wird der Raum von einem 45 Grad nach vorne gekipptem Spiegel, der eine farbige Bodenfläche reflektiert und dabei den Eindruck aufkommen lässt, dass wir es hier mit einem kleinen See zu tun haben. Im oberen Bereich der Bühne befindet sich eine Brücke, auf dem die Sänger positioniert sind und singen. Zu den Worten der Sänger bewegen die Drag-Queens synchron die Lippen, so dass es so aussieht, als würden sowohl die Gesangssolisten als auch die Travestie-Künstler singen. Diese Märchengestalten werden bei Kraft zu schillernden Doppelwesen, die große Sinnlichkeit versprühen. Dieser Doppelgänger-Gedanke funktioniert hervorragend. Die Menschen dagegen werden nicht verdoppelt. Im Gegensatz zu den Drag-Queens stehen sie nicht zwischen den Geschlechtern. Sie sind und bleiben, was sie sind.

Im Laufe des Abends gehen die Welten zunehmend ineinander über. Die Sänger klettern über eine am linken Rand der Bühne befindliche Leiter in den Bereich der Transvestiten herab, während letztere auch nach oben klettern können. Oftmals kommt es auf diese Weise zu Vereinigungen von Sänger- und Drag-Queen-Welt. Dieser Fakt und der Spiegel machen es möglich, dass die verschiedenen Gestalten manchmal in unterschiedlicher Anzahl aufzutreten scheinen. Das machte einen gewaltigen Eindruck! Einmal richtet sich das riesige Spiegelglas auch ganz auf und reflektiert das Publikum samt Orchester und Dirigentin. Der Regisseur hält dem Auditorium gleichsam den sprichwörtlichen Spiegel vor. Rusalka ist eine Außenseiterin. Die Begegnung mit ihrem Double, das von Reflektra – das ist der australische Tänzer und Dragist Joe Small – gespielt wird, hebt die Beziehung von Rusalka und ihrem Alter Ego geschickt auf eine psychologische Ebene. Bei Rusalka steht das Körperliche, bei Reflektra das Emotionale im Vordergrund. Zeitweilig, so zu Beginn des zweiten Aktes, in denen sie ohne die Sängerin zu sehen ist, scheint Reflektra den Sieg davonzutragen. Reflektra ist es aber auch, die sichtbar leidet. Seitens der Regie sehr gelungen ist die Szene im zweiten Akt, in der sie an einem Schminktisch sitzt, während der Prinz mit der fremden Fürstin anbandelt. Eine Kamera in dem Spiegel projiziert ihr Gesicht auf eine Leinwand im Hintergrund. Hier zeigt sich das ganze Ausmaß ihrer vielfältigen Emotionen, die große Trauer über den Treuebruch des Prinzen. Ihre Hoffnung auf ein Glück an seiner Seite ist auf der ganzen Linie gescheitert, ihr Lebensplan mithin nicht aufgegangen. Dass Kraft Reflektra diese ganz zentrale Szene spielen lässt, zeigt seine Intention, die Drag-Queen in den Vordergrund zu stellen. Die Sängerin der Rusalka hat in diesem Akt an Bedeutung verloren. Während des Schlussduetts zwischen Rusalka und dem Prinzen schminkt sich Reflektra ab und offenbart ganz ihre männliche Seite. Anschließend steigt der nun zum Mann gewordene Transvestit in Unterhosen die Leiter zu der Brücke empor. Am Ende schwebt er als Wasserwesen mit Schwanz zum Schnürboden empor. Man merkt: Ihm kommt in dieser Produktion die eigentliche Hauptrolle zu. Insgesamt hat es den Anschein, als ob außer ihm auch die übrigen Drag Queens – Alexander Cameltoe (Wassermann), Judy LaDivina (Jezibaba), Vava Vilde, Lola Rose und Purrja (Elfen) von der Regie viel stärker gefordert werden als die Sänger. Das war alles trefflich durchdacht und äußerst kurzweilig umgesetzt. Die Personenregie war stringent und flüssig. Diese äußerst gelungene, geradezu preisverdächtige Produktion stellt wahrlich einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes dar.

Pures Glück herrschte auch im Orchestergraben vor, wo Oksana Lyniv zusammen mit dem trefflich disponierten Staatsorchester Stuttgart dem begeisterten Publikum eine hochkarätige musikalische Sternstunde bescherte. Die ukrainische Dirigentin ist schon einer der besten Vertreterinnen ihrer Zunft. Mit großer Raffinesse und einem guten Gespür für musikalische Zusammenhänge gelang es ihr, die Zuschauer in einen regelrechten Klangrausch zu versetzen. Mit feiner, transparenter Tongebung lotete sie die Strukturen von Dvoraks vielschichtiger Partitur gekonnt aus, wobei sie für das Impressionistische des Werkes dasselbe treffliche Gespür bewies wie für die Anklänge an Richard Wagner. Auch das Volksliedhafte der Musik wurde von ihr aufs Beste herausgearbeitet. Darüber hinaus verstand sie es trefflich, markante Akzente zu setzen und enorme Spannung aufzubauen. Dabei ging sie sehr differenziert vor. Teilweise recht leise, bedächtige Töne anschlagend und die Sänger nie zudeckend drehte sie in den Zwischenspielen den Orchesterapparat auch manchmal gewaltig auf. Da gingen einem die enormen Klangfluten ganz schön unter die Haut. Das war eine ganz große Leistung seitens der Dirigentin. Bravo!

Ebenfalls auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Mit silbern schimmerndem und zur Höhe hin schön aufblühendem Sopran erwies sich Esther Dierkes als ideale Rusalka. Herrlich geriet ihr das Lied an den Mond im ersten Akt. David Junghoon Kim sang kraftvoll und gut fundiert einen beeindruckenden Prinzen. Der Wassermann von Goran Juric zeichnete sich durch eine imposante, sonore Bassfülle, eine perfekte italienische Technik sowie hohe Emotionalität seines Vortrages aus. Seine Arie im zweiten Akt war ein Höhepunkt der Aufführung. Eine prägnant und dramatisch singende Fremde Fürstin war Allison Cook. Einen voll und rund klingenden, ebenmäßig dahinfliessenden Mezzosopran brachte Katia Ledoux in die Partie der Jezibaba ein. Von dem Jäger des jungen Angel Macias hätte man gerne etwas mehr gehört. Seine Arie im ersten Akt lässt auf eine gute Entwicklung schließen. Bei Natasha Te Rupe Wilson, Catriona Smith und Leia Lensing waren die drei Elfen in bewährten Händen. Darstellerisch köstlich und stimmlich mit vorbildlich gestütztem Mezzosopran tadellos gab Alexandra Urquiola den Küchenjungen. Gegenüber seinen allesamt guten Kollegen fiel der maskig klingende und ohne die erforderliche Köperstütze der Stimme singende Thorsten Hofmann in der Rolle des Hegers ab. Nichts auszusetzen gab es an dem von Manuel Pujol einstudierten, profund singenden Staatsopernchor Stuttgart.

Fazit: Eine prachtvolle Aufführung, die die Fahrt nach Stuttgart voll gelohnt hat und sich tief in das Gedächtnis eingrub!

Ludwig Steinbach, 19.6.2022

Bilder (c) Matthias Baus