Berlin: „Chowanschtschina“, Modest Mussorgsky (zweite Aufführung)

Armes Russland

Hätte die fürs Tierwohl hochengagierte Organisation PETA nicht bereits dafür gesorgt, dass die lebendigen und eigentlich recht vergnügten Kaninchen aus Wagners Ring an der Staatsoper verschwinden mussten, dann wäre zuzüglich zum mit Futter gefülltem Fressnapf vielleicht auch der dazu gehörende große schwarze Hund in Claus Guths Inszenierung von Modest Mussorgskys Chowanschtschina gekommen und hätte in das grausame Spiel etwas menschliche, nein tierische Wärme gebracht und zugleich daran erinnert, dass der Kremlherrscher mit seinem Erscheinen die an Hundephobie leidende Angela Merkel hatte schrecken wollen. Und wäre die Produktion bereits wie vorgesehen vor Putins Einfall in die Ukraine und vor Nawalnys Tod auf die Bühne gekommen, dann hätte ihr die in Besorgnis stürzende Aktualität des Entweder-Chaos-oder-Tyrannei als Schicksal Russlands gefehlt. Schränkte die Verschiebung der Premiere die Möglichkeiten der Regie also ein, so verlieh sie gleichzeitig der Inszenierung eine besondere, Beklemmung auslösende Brisanz.

© Monika Rittershaus

Aus Albert Lortzings einst oft gespielter und heute fast vergessener Spieloper Zar und Zimmermann kennt man den Zaren Peter als generösen, weltoffenen, pflichtbewussten Herrscher, der sein Volk aus der Rückständigkeit und sein Land aus der europafeindlichen Isolation herausführen wollte. Aus den Geschichtsbüchern weiß man, dass er dabei nicht zimperlich mit seinen Mitmenschen umging, die aufmüpfigen Strelitzen grausam verfolgte, den Bojaren die langen Bärte abschneiden und seinen eigenen Sohn foltern ließ. Das alles spielt in der Oper, die zeitlich kurz vor der Machtergreifung Peters angesiedelt ist, noch keine Rolle, es wir aber mit einer immer mal wieder auftauchenden Statue bereits auf ihn verwiesen, und er scheint der Knabe zu sein, der ab und zu, wohl um den Stand seiner Reife festzustellen, vermessen wird. Die von Christian Schmidt gestaltete Bühne bleibt oft leer und bietet so dem großen Chor viel Platz, schafft aber für einzelne Szenen wie die im Haus des Fürsten Golizyn intime Räume. Haben an der Musik zu Chowanschtschina, zumindest an der hier aufgeführten Fassung, drei unterschiedliche Komponisten mitgewirkt, so spielt Guths Inszenierung in drei oder auch mehr unterschiedlichen Zeiten, der des Librettos, der von Revolutionen geprägten auf der Videowand (aber auch eine Leninstatue wird gestürzt) und einer nicht näher festgelegten, aber modernen, in der Forscher das historische Geschehen untersuchen. Damit macht man sich einerseits die Absicht Mussorgskys zu Eigen, der „das Vergangene im Gegenwärtigen darstellen“ wollte, offenbart aber gleichzeitig auch das Gegenwärtige im Vergangenen.

© Monika Rittershaus

Die Optik bietet ein anregendes, unterhaltsames, bisweilen überforderndes Neben-, Mit- und Durcheinander von historischen und modernen Kostümen (Ursula Kudrna), Requisiten, natürlichen Personen und solchen auf der Videowand, und jeder Besucher tut gut daran, sich mit dem informationsreichen Programmheft auf den Besuch der Oper vorzubereiten. Ab und zu hat man den Eindruck, die Produktion sei ein wenig auch ein Abschied vom Regietheater, denn die ihm entsprungenen Figuren sind gegenüber den eigentlichen des Stücks so blass und wesenlos, dass sie nur noch wie eine lustlos hinzugefügte Pflichtübung wirken.

Herausragend und eigentlich über jede Kritik erhaben ist die Besetzung fast durchweg aller Partien. Die aus dem slawischen Sprachraum stammenden Sänger scheinen im Vorteil zu sein, sind es aber nicht, denn Ensemblemitglied Stephan Rügamer ist als Fürst Golizyn ein faszinierend schillernder Charakter mit ebensolchem Charaktertenor der unendlich vielen Facetten. Dieses Fach bedient auch Andrei Popov als Schreiber, allerdings rollengemäß eher in Richtung Gottesnarr tendierend. Als Schürzenjäger in der deutschen Vorstadt, in der auch Peter erste Liebesabenteuer erlebte, kann Najmiddin Mavlyanov eher Testosterongesteuertes als lyrische Qualitäten präsentieren. Natürlich dominieren in dieser Oper, auch bei den Damen, die tiefen Stimmen. Als wahres Stimmjuwel erweist sich Marina Prudenskaya als Marfa, mit einem über alle Register hinweg verführerischen Timbre, einer schönen Ebenmäßigkeit und einer mitreißenden Eindringlichkeit, in allen so unterschiedlichen Szenen wie der als Beschützerin, Wahrsagerin oder Märtyrerin gleiche Intensität aufbringend. Evelin Novak singt mit leuchtendem Sopran die verfolgte Unschuld Emma. George Gagnidze, in Berlin bereits bekannt als Sänger italienischer Partien, verleiht auch dem Bojaren Schaklowity mit einem reich timbrierten, schillernden Bariton ein unverwechselbares akustisches Profil. Gleichermaßen überwältigend und doch sehr unterschiedlich sind die Bässe von Mika Kares und Taras Shtonda. Ersterer hatte bereits im Ring mit abgrundtiefer, wie dunkler Samt klingenden Stimme entzückt und ist nun Iwan Chowanski, letzterer ist die Bassautorität in Person mit seinem Altgläubigen Dossifei. Langjährige Ensemblemitglieder wie Anna Samuil (Susanna) und Roman Trekel (Warsonofjew) können sich in kleineren Partien profilieren.

© Monika Rittershaus

Am Dirigentenpult steht Simone Young, in letzter Zeit häufiger Gast im Haus. Ihr Verdienst ist es, dass das Werk trotz des Mitwirkens von drei Komponisten, neben Mussorgsky noch Dmitry Schostakowitsch und Igor Strawinsky, wie ein Ganzes wirkt, dass Morgenstimmung und Tanz der persischen Mädchen (optisch allerdings hingemetzelte Derwische) Wohlgefühl hervorrufen, die sonstige Düsternis durchsichtig bleibt, die Sängerstimmen behutsam eingebettet werden in den Orchesterklang. Als gleichberechtigter Klangkörper leistet der Chor der Staatsoper Phantastisches, ja Überwältigendes. Der Klagechor der Strelitzen und ihrer Frauen geht dem Hörer durch Mark und Bein und kann ihn für einen Moment tief berühren. Aber auch das Volk ist kein Opernheld, um dessen Wohl und Wehe man zittert, noch weniger die Angehörigen der einzelnen Intrigantengruppen im unbarmherzigen Kampf um die Macht, und so bleibt man über weite Strecken hinweg voller Bewunderung für die Leistungen der Mitwirkenden, aber in kühler Distanz zu den Figuren, die sie verkörpern.

Ingrid Wanja, 7. Juni 2024


Chowanschtschina
Modest Mussorgsky

Staatsoper Unter den Linden

Besuchte Vorstellung am 6. Juni 2024
Premiere am 2. Juni 2024

Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Simone Young
Staatskapelle Berlin