Berlin: „Die Walküre“

Premiere am 3.10.2022

Nothung in der Plastiktasche

Geht es in einer Oper um Immobilien und Edelmetall wie in Wagners Rheingold, dann ist das Publikum durchaus geneigt, allerlei Regiespäßchen hinzunehmen, ja zu goutieren, anders sieht es aus, wenn es um Liebe, sei es Gatten-oder Geschwisterliebe, sündige oder die aus reiner Empathie geht, wovon die Walküre voll, wenn nicht übervoll ist. Ist es dann angebracht, aus Siegmund einen entflohenen Sträfling mit wenig schmeichelhaftem Steckbrief zu machen, das Ehepaar Hunding in ein Tiny-Haus auf dem Gelände der Forschungsanstalt E.S.C.H.E anzusiedeln, in dem aber auch Wotan und Brünnhilde zeitweise zu hausen scheinen, sich jedenfalls zuhause fühlen? Darf man Sieglinde vor der Flucht noch sämtliche Textilien zusammenraffen, Siegmund den Kühlschrank leeren lassen, d.h. nicht völlig, denn Brünnhilde und Wotan finden noch zwei Flaschen Bier zum gemeinsamen Genuss. Längst ist es gang und gäbe, auf der Bühne seine Notdurft zu verrichten, was in diesem Fall Hunding tut. Darf man Sieglinde und Siegmund ihre Flucht durch zwei Etagen mit gefühlt hundert schlagenden Türen vollziehen lassen, vorbei an unzähligen Kaninchenställen mit „echten“ Tieren darin, und was sagt Peta dazu?

Darf man Sieglinde um Siegmund trauern lassen, obwohl der Letztere gar nicht von Hunding niederstreckt, sondern von Wachleuten abgeführt wurde? Darf Wotan am Schluss in den Bühnenhintergrund fahren, während Brünnhilde an der Rampe stehen bleibt und von Feuer weit und breit nichts zu sehen ist? Hält sich die Flasche mit Babynahrung, die Brünnhilde der scheidenden Sieglinde zusteckt, so lange, dass Klein-Siegfried noch davon profitieren kann. Oder hat sie ihr etwas ganz anderes gegeben? Und wenn ja, was? Ist der Regisseur ein Stühlefetischist?

Die Fragen wird das Publikum erst beantworten können, wenn der letzte Ton der Götterdämmerung am Sonntag verklungen sein wird und sich das Regieteam vielleicht zum Entgegennehmen des Beifalls bereitfindet. Einst allerdings scheint bereits klar zu sein, die Regie weigert sich beharrlich, anzuerkennen, dass das Personal des Ring sich nicht auf Menschen beschränkt, sondern lässt die Götter nicht nur menschlich, sondern durchweg allzu menschlich erscheinen, verweigert der Musik die Unterstützung durch eine adäquate Optik auf der Bühne. Was sich im Orchestergraben unter der Leitung von Christian Thielemann abspielt, ist allerdings so phantastisch in seiner Klarheit, seinem Reichtum an Agogik, von zartesten Gespinsten bis zum brillanten Klangrausch reichend, der umso beeindruckender ist, als er aus einer auch ganz zurückhaltenden und sängerschonenden Grundhaltung erwächst.

Einen ganz großen Abend hatte Michael Volle als Wotan mit einer breiten Scala von zarten bis hin zu urgewaltig mächtigen Klängen, sein Göttervater war akustisch um einige entscheidende Grade edler als die Regie ihn haben wollte. Ihr Rollendebüt als Brünnhilde gab Anja Kampe und war eine so resolute wie sensible Walküre, auch im extremen Forte nie schrill, sondern unangestrengt und warm klingend, strahlend in der Höhe und substanz- und nuancenreich in der Mittellage. Ihre Halbschwester Sieglinde, verkörpert durch Vida Miknevičiū, prunkte mit einer helleren, ausgesprochen „blonden“ Stimme und rührte durch ihre empfindsame Darstellung. Das „hehrste Wunder“ war tatsächlich ein solches. Claudia Mahnke war als Fricka wieder ein Wunder von einem frei strömenden Mezzosopran. Mika Kares hatte für den Hunding fast eine zu schöne, auf jeden Fall aber auch hochpräsente Bassstimme.

Weniger gefallen konnte der Siegmund von Robert Watson mit zwar kraftvollen, aber unangenehm klingenden Wälserufen, dem Tenor fehlte zumindest an diesem Abend alles Strahlende, er klang oft gepresst und wesentlich weniger edel als die ihn begleitenden Instrumente im Orchestergraben. Etwas unausgeglichen ließen sich die Walküren vernehmen, aus deren Kreis Clara Nadeshdin als Gerhilde angenehm herausragte. Nun kann man gespannt sein, wo Siegfried Brünnhilde aufgabeln wird, die sich mitsamt Handtasche einfach davon gemacht hat.

3.10.2022 / Ingrid Wanja

Fotos: Monika Rittershaus