Berlin: „Juliette“

Premiere am 28.5.2016

Großer Schauspieler Villazon

Die Saison neigt sich dem Ende zu, und alle drei Berliner Opernhäuser widmen oder widmeten sich dem Raren, dem Neuen oder dem fast Vergessenen. Nach der Deutschen Oper mit Haas‘ „Morgen und Abend“, der Komischen Oper mit HK Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ stellte die Staatsoper im Schillertheater Bohuslav Martinůs „Juliette“ vor und hatte wie die beiden anderen Bühnen mit dem Ungewohnten einen großen Erfolg.

Selbst der ansonsten gründliche Opernführer von Hardenberg nennt das Werk des tschechischen Komponisten nur „Julietta“ nach der tschechischen Fassung, die eigentlich die zweite ist, denn ursprünglich war die Oper mit dem Libretto des Komponisten nach Georges Neveux‘ „Juliette, ou la Clé des songes“ als „Juliette“ konzipiert, da die französische Uraufführung aber nicht zustande kam, schuf der Komponist eine Fassung in seiner Muttersprache und diese erlebte 1938 in Prag ihre Uraufführung. Für alle nicht tschechischen Opernhäuser ist es natürlich leichter, gute Sänger für die französische Fassung zu finden. Aber erst zum fünfzigsten Todestag des Komponisten im Jahre 2009 sahen sich mehrere Bühnen, darunter Wiesbaden, Zürich und Frankfurt dazu bereit, seine „Juliette“ oder „Julietta“ aufzuführen. Von den fünfzehn Opern des Komponisten erlangte noch die „Griechische Passion“ einige Bedeutung.

Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, der, aus Paris kommend, in eine Hafenstadt reist, in der er einst eine junge Frau aus einem Fenster heraus hat singen hören. Keiner der Bewohner will die Frau kennen, aber Michel wird gegen seinen Willen zum Bürgermeister ernannt, bleibt jedoch, als die junge Frau wieder erscheint und ihm Aufklärung über ihr Geheimnis verspricht. Dazu kommt es jedoch nicht, stattdessen haben in dem Wald, in dem das Wiedersehen stattfinden soll, alle Menschen ihr Gedächtnis verloren, und Juliette will dem Ruf eines Horns folgen, worauf Michel einen Schuss abfeuert, aber nicht weiß, ob er Juliette getroffen hat. Erneut wird seine Abreise verhindert, weil er die Stimme der Frau zu hören glaubte. Im letzten der drei Akte wird das Schiff, auf dem Michel abreisen wollte, zu einem Amtszimmer, in dem verschiedene Menschen die Verwirklichung ihrer Träume einfordern. Sie alle sehnen sich nach einem Mädchen namens Juliette, dessen Stimme hinter einer Tür zu hören ist, der Nachtwächter fordert Michel auf, das Reich der Träume zu verlassen, aber die Tür ist verschlossen, die beiden Araber tauchen wieder auf: die Geschichte oder vielmehr der Traum könnte wieder von vorn beginnen.

Die Aufgabe der Regie und des Bühnenbilds ist es, die Atmosphäre zwischen Realität und Traum, die surrealen Momente des Stücks in der Optik zu vermitteln. Regisseur Claus Guth und Bühnenbildner Alfred Peter ist das vorzüglich gelungen mit einem aus farblosen Kästen, Wänden, Schubladen, verschiebbar und mit vielen Öffnungen versehen, aus denen Menschen heraustreten oder wieder verschwinden, von Anfang an eine zwielichtige Atmosphäre geschaffen wird. Die Farbe Rot, Symbol des Erotischen wie das Kleid der Juliette taucht immer wieder als Verheißung, als Band, als Schal, als Gewand auf, um Michel zu irritieren. Für den Wald des zweiten Akts wird im wesentlichen ein riesiges grünes Blatt auf die Bühne herabgelassen, dazu einige Lianen, der dritte Akt übt eine besonders suggestive Wirkung aus durch Unmengen von Trockeneis, das Bühnenhimmel und –boden in Nebel hüllt, ständig Schwaden davon auch sich in den Orchestergraben senken lässt.

Aber was wäre der Abend ohne den wunderbaren Schauspieler Rolando Villazon, der die Intentionen der Personenregie eindrucksvoll umsetzt, keinen Augenblick die Spannung des Geschehens durchhängen lässt, fast Akrobatisches vollbringt und eine Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten in Gestik und Mimik zur Verfügung hat. Dazu ist sein Französisch vorzüglich, und da spielt es fast keine Rolle mehr, dass unüberhörbar die Stimme nicht mehr in der Lage sein dürfte, einer italienischen Partie des klassischen Repertoires gerecht zu werden, denn zwar klingt die baritonal gefärbte untere Mittellage recht präsent, aber darüber wird der Tenor grell und heiser, ist zu keiner ebenmäßigen Gesangslinie fähig, und obwohl der Komponist für die Tenorstimme durchaus Kantables komponiert hat, kann der Sänger diese Gelegenheiten nicht nutzen.

Ganz anders Magdalena Kožená, die längst nicht wie ihr Partner gefordert wird, die die Rolle auch bereits in der Philharmonie gesungen hat und die mit ihrem leichten Mezzo feiner Farben und dem lasziv-verführerischen Spiel eine vokal wie optisch ideale Besetzung für die Juliette ist. Fast alle weiteren Rollen müssen sich zu zweit, dritt oder gar viert einen Sänger teilen, was nicht zuletzt ein Hinweis auf Austauschbarkeit und Wiederholbarkeit von Personen und Handlungen sein soll. Mit prägnantem, einprägsamem Charaktertenor kann sich Richard Croft besonders mit dem Beamten profilieren, singt außerdem Kommissar, Briefträger und Waldhüter. Wolfgang Schöne kann seine imponierende Bühnenpräsenz mit Alter Araber, Altvater Jugend und Alte Matrose unter Beweis stellen. Mit klarem Tenor ist Florian Hoffmann der Lokomotivführer, mit tragfähigem Countertenor Thomas Lichtenecker Junger Araber, 3. Herr und Junger Matrose. Besonders als Handleserin, aber auch als Vogelverkäuferin und 1. Herr kann Elsa Dreisig einen außergewöhnlich schön timbrierten Sopran vorführen, Adriane Queiroz ist die bewährte Kraft für Fischverkäuferin und Alte Dame, Arttu Kataja und Jan Martinik vertreten mit Anstand und Können das tiefe Fach. Der eigentliche Star des Abends istr die Staatskapelle unter Daniel Barenboim, die die unterschiedlichen Elemente der Musik, seien es mährisch Volkstümliches, französisch Impressionistisches oder die ganz eigene Klangsprache des Komponisten sich aufs Herrlichste entfalten und eine akustische surreale Traumwelt erklingen lassen.

Fotos Monika Rittershaus

29.5.2016 Ingrid Wanja