Beethovens Große Oper Fidelio begleitete Harry Kupfer seit seinen frühen Jahren in Weimar und Dresden. Auch in Berlin hat er das Stück bereits inszeniert – 1997 an der Komischen Oper. Noch immer ist diese Inszenierung in lebendiger Erinnerung, gelang dem Regisseur damals doch die schwierige Gratwanderung zwischen konzertanter Aufführung und packendem Musikdrama. Kupfer inszenierte eine Probensituation, in der die beteiligten Sänger diese mehr und mehr vergessen und sich vom Sog der Beethovenschen Musik hinweg tragen lassen in ein spannendes Spiel der großen Emotionen. Bei seiner Neuinszenierung, die am 3. Oktober 2016 im Schiller Theater Premiere hatte und nun in der Staatsoper gezeigt wurde, griff er diese Idee auf, verwirklichte sie allerdings weit weniger konsequent und schlüssig. Denn er wechselt mehrfach und scheinbar willkürlich zwischen Handlung und Probe. Die Bühne von Hans Schavernoch, einem langjährigen Mitarbeiter des Regisseurs, zeigt zu Beginn im Hintergrund ein überdimensionales Farbposter des Großen Saals im Wiener Musikverein, der mit dem Stück – außer der Stadt (denn Fidelio wurde 1805 im Theater an der Wien uraufgeführt) – nichts gemein hat. Offenbar wird für eine konzertante Aufführung in diesem Saal geprobt, weshalb in der Mitte des Raumes ein schwarzer Flügel mit weißer Beethoven-Büste postiert ist. Nach dem letzten Ton der Leonoren-Ouvertüre Nr. 2, die Alexander Soddy mit der Staatskapelle Berlin in gewichtigen Akkorden und spannenden Akzenten ausbreitet, fällt das Wandbild in sich zusammen und gibt den Blick frei auf eine dunkle Klagemauer, die mit unzähligen Inschriften und Parolen bekritzelt ist. „Freiheit“ und „Frieden“ stechen in großen Lettern heraus. Marzelline agiert bei ihrer einleitenden Arie wie in einer Aufführung, auch Leonore tritt wie üblich mit schwerer Last auf, aber schon für das Quartett treten die Sänger aus ihren Rollen heraus, legen ihre grauen Alltagskostüme (Yan Tax) ab und greifen zu den Klavierauszügen. Das wiederholt sich bei den Gefangenen, wenn sie wieder in ihre Verliese zurückkehren müssen. Der Staatsopernchor (Einstudierung: Martin Wright) sorgt mit „O welche Lust“, das der Dirigent mit atmosphärischen Klängen einleitet, für einen ersten musikalischen Höhepunkt der Aufführung.
Camilla Nylund ist eine Leonore mit jugendlich-dramatischem Sopran, der über warme, innige Herzenstöne verfügt und an diesem Abend (19. 9. 2021) auch die exponierte Lage beachtlich meistert. Eine schöne Substanz besitzt der lyrische Sopran von Victoria Randem als Marzelline, der jugendliche Tenor von Siyabonga Maqungo als Jaquino ist schmaler im Volumen, doch angenehm im Timbre. Mit Kwangchul Youn war der Rocco einem reifen, gestandenen Sänger anvertraut, der in der „Gold“-Arie markant aufzutrumpfen wusste. Als Pizarro erlebte man dagegen mit Matthias Goerne einen Rollendebütanten. Ganz ohne vordergründige Gefährlichkeit, eher von fast jovialer Aura war sein Gouverneur von ganz ungewohntem Zuschnitt. Neben eindrucksvollen stimmlichen Momenten gab es auch solche, in denen die Stimme in ihrer weichen Resonanz nicht genügend dramatischen Kern besaß und zu eingebettet im Orchesterklang wirkte. Mit dem Auftritt von Andreas Schager als Florestan gewann die Aufführung an Spannung. Sein heldischer Tenor mit schmerzend metallischem Material und dröhnendem fortissimo wird oft verschwenderisch eingesetzt, doch steigert er seine Arie effektvoll vom verhaltenen Einsatz des „Gott“ bis zum existentiellen Aufschrei. Roman Trekel als Don Fernando im Smoking fehlt es an Autorität im Auftritt und an Substanz in der Tiefe. Ein Detail in Kupfers früheren Deutungen ist unvergessen in seiner Schlichtheit und Größe, wenn Leonore nach der Kettenabnahme bei Florestan auch ihr Haarband löst und es neben die Handschellen legt – als Zeichen, dass beider schwere Vergangenheit nun ein Ende hat. Hier ist diese Geste nur angedeutet und bleibt beiläufig. Auch das hymnische Finale, für das sich wieder das Poster des Musikvereinssaales entrollt, bleibt szenisch hinter der heroischen Vorlage zurück, denn die heiter agierenden Choristen scheinen sich eher über eine gelungene Probe zu freuen, als den Sieg der Liebe über die Tyrannei zu feiern.
Bernd Hoppe, 21.9.2021