Berlin: „Le nozze di Figaro“ als Stream

Corona 1989

Ein kurzes Verfallsdatum haben Inszenierungen von Mozarts Le Nozze di Figaro an der Staatsoper Unter den Linden, denn nachdem sich Theo Adams Produktion immer hin von 1972 bis 1999 als Dauerbrenner erwiesen hatte, langweilte die von Thomas Langhoff gerade einmal 16 Jahre, während gar Jürgen Flimms völlig vergagter Figaro von 2015 nun schon wieder in der Versenkung verschwunden ist. Nun also soll unter dem Dirigat von Daniel Barenboim ein neuer Zyklus der drei Da-Ponte-Opern das Publikum für sich einnehmen, die Optik liegt in französischer Hand, was ja generell Anlass zu freudiger Erwartung sein könnte. Mit dieser hat es allerdings schnell ein Ende, wenn man im Programmheft zur Kenntnis nehmen muss, dass Regisseur Vincent Huguet aus den drei Werken einen Zyklus gestalten will, wobei im Abstand von ungefähr zwanzig Jahren mit Così junge Liebe in Irrungen und Wirrungen gerät, in Le Nozze di Figaro Überdruss und Eifersüchteleien der Paare zum Thema werden und schließlich im Don Giovanni der Untergang naht. Das mutet bei einem Werk wie dem Figaro, das tatsächlich eine Vorgeschichte vom gleichen Autor, vertont allerdings von Rossini u.a. und nicht Mozart hat und sogar eine Fortsetzung, vertont von Jules Massenet mit Chérubin, mehr als seltsam an, nicht zuletzt weil das Personal der drei Mozart-Opern ja nichts miteinander zu tun hat. Der wilde Gestaltungswille des Regisseurs wird sich jedoch wohl von diesem so kühnen wie unsinnigen Unternehmen nicht abbringen lassen.

Schmunzeln kann man immerhin, wenn man im Programmheft ein brav abgedrucktes Zitat von Beaumarchais liest, wonach Komik nur zustande kommt, „wenn das Thema starke Konflikte aufweist, die ihrerseits immer aus einem gesellschaftlichen Missverhältnis entstehen“. Das allerdings gab es sehr wohl, wenn am Vorabend der Französischen Revolution der Graf zwar aus freien Stücken auf das Recht der ersten Nacht verzichtet hat, das aber längst bereut, nicht aber 1989, wo weder ein Heiratsversprechen wegen eines Schuldscheins eingefordert, noch ein junger Bursche mit einem Offizierspatent in den Kampf geschickt werden konnte. Mit der Verlagerung in die Fast-jetzt-Zeit wird das eigentlich schlüssige und brisante Stück einfach lächerlich, und dann spielt es auch keine Rolle mehr, dass die Charaktere nicht mehr zu der Musik passen, die sie zu singen haben, so die bei Huguet angeblich sündige Contessa, die „dem Grafen nicht vorwirft, was sie sich selbst erlaubt“, oder sind mit „dove sono i bei momenti“ heimliche Rendezvous gemeint? Am Schluss der Aufführung allerdings macht sie sich mit Cherubino, der eigentlich bereits mit Barberina vermählt wurde, eilends davon, und der Conte bleibt allein zurück. Die Personenregie ist ausgefeilt, verlangt den Sängern viel Bewegung ab, wird aber zunehmend ihnen gewogener, so wenn „Dove sono i bei momenti“ oder die Rosenarie ungestört ablaufen können.

Und wie es bei einer solchen Konzeption nicht anders sein kann, bevölkern wieder einmal Kühlschrank, Kittelschürze, Plastekorb, Kofferradio und Warhol-Bild die von Aurélie Maestre gestaltete Szene, im ersten Akt eine Wasch- und Wohnküche, im zweiten die Garderobe der Contessa, die hier ein abgehalfteter Revuestar ist, ansonsten, und das gilt auch für die Einfälle der Regie, wird es immer „normaler“ und damit traditioneller, tauchen nur mal ein Zauberwürfel, mal elektrische Lockenwickler auf und überraschenderweise beim Chor medizinische Masken, als spiele die Geschichte weder im 18. noch im 20. Jahrhundert, sondern hier und heute. Die Kostüme, die aus Figaro und Susanna Unterschichtblüten machen, stammen von Clémence Pernoud, meinen es mit der Marzelline sehr gut.

Fast nur Gutes sagen kann man über die Besetzung, hervorragend sind Contessa und Susanna. Elsa Dreisig sing mit reicher Stimme und schönen Schwelltönen ihre Arien, den zweiten Teil von „Dove sono“ in einem unerhört farbigen Pianissimo, atemberaubend schön das Rezitativ dazu und alles mit einem Sopran von wunderbarem Ebenmaß. Susanna ist Nadine Sierra mit kristallklarem, spritzig-pikantem Sopran, der in der Rosenarie mit einer hübschen Verzierung sehr erotisch klingt. Rollengemäß leichte Schärfen hat der Mezzo von Katharina Kammerloher für die überaus elegante Marzellina, die leider ebenso wenig wie der Basilio ihre Arie singen darf. Zauberhaft ist die Barberina von Liubov Me vedeva. Farbig-frisch singt Emily D‘Angelo Cherubinos „Voi che sapete“ und ist optisch dazu eine Klasse für sich. Erfreulich weiterentwickelt hat sich der Bariton Gyula Orendt am Haus und singt nun einen eleganten Conte mit prägnanter „Già vinta la causa“. Riccardo Fassi ist optisch wie vokal ein rollendeckend der Figaro mit dunklem Timbre, stellenweise etwas dumpf. Stephan Rüdiger macht aus dem Don Basilio eine unverwechselbare Figur, und man hätte gern seine Arie gehört. Don Bartolos „La vendetta“ wird von Maurizio Muraro sehr anständig gesungen, und warum Siegfried Jerusalem, doch noch immer ein attraktiver Mann, sich den Stotterer Don Curzio antut, bleibt ein Geheimnis.

Die Kamera wagt vor Beginn der Vorstellung einen Blick in den Orchestergraben, und man kann anhand des schweißüberströmten Gesichts einer gerade ihre Maske absetzenden Musikerin erkennen und ermessen, wie hart die Arbeit in diesen Coronazeiten war. Trotzdem gelingt dem Orchester unter Daniel Barenboim eine straffe, leicht federnde Begleitung und allen zusammen ein musikalisch hochwertiger Abend, der in „normalen“ Zeiten sicherlich auch seine bewundernden Besucher haben wird.

Fotos: Matthias Baus

01.04.2021 Ingrid Wanja