Braunschweig: „Carmina Burana“, Carl Orff

Nach 1976/77 und 1989/90 ging nun zu dritten Mal eine spartenübergreifende Produktion von Carl Orffs „Carmina burana“ als Tanzstück von Gregor Zöllig mit ihrer Premiere am 4.11. erfolgreich über die Bühne. Mit der Vertonung von 24 der von Orff 1934 in einem Antiquariat gefundenen etwa 200 Liedtexte, die zu Beginn des 19.Jahrhunderts im Kloster Benediktbeuren entdeckt, 1875 veröffentlicht und am 8. Juni 1937 an den Städtischen Bühnen Frankfurt uraufgeführt wurden, wurde die Fachwelt endlich auf Orff aufmerksam, so dass er in der Folgezeit nahezu alle bis dahin vorangegangenen Werke zurückzog. Die Textsammlung entstammt vorwiegend der Goliardenliteratur (Goliarden waren französische kirchenfeindlich eingestellte Kleriker und Scholaren) und der Vagantenpoesie (Fahrende im Hochmittelalter) in lateinischer und mittelhochdeutscher Sprache, teilweise in lateinisch-französischen und lateinisch-deutschen Mischformen. In moralisch-satirischen Gedichten wird gegen Missstände des Staates, der Kirche, der Erziehung, gegen die Macht des Geldes oder gegen den Sittenverfall gewettert. Daneben stehen zarte Frühlings-, Tanz- und Liebeslieder sowie Lieder fahrender Gesellen, die derb-sinnlichen Freuden huldigen.

© Leszek Januszewski

Die Miniatur „Rad der Fortuna“ auf dem Titelblatt regte Orff zu dem mächtigen „Fortuna“-Chor an, der symbolisch steht für das sich ständig drehende Schicksalsrad am Anfang und Ende der „szenischen Kantate“, wie er sein Werk selbst nannte. Es ist eingeteilt in drei große Abschnitte und konzipiert für drei Solisten, die oft in extremer Höhenlage ihrer Stimmen zu singen haben, großen Chor und durch umfangreiches Schlagwerk ergänztes Sinfonieorchester.

Der erste Abschnitt umfasst Frühlings- („Primo vere“) und Tanzlieder („Uf dem Anger“) mit stark bajuwarischen Elementen. Auf die bäuerische Frühlingsfeier folgt „In taberna“, derbe Schank-Szenen, die ganz den Männerstimmen vorbehalten sind. Eine ganz andere Welt tut sich im dritten Teil mit dem bezeichnenden Titel „Cour d’amours“ (Liebeshof) auf, eine Folge von Liebesliedern, die schließlich nahtlos in den großen „Fortuna“-Chor des Anfangs münden.

© Leszek Januszewski

Die „Carmina burana“ mit ihrer teilweise eigenwilligen, typisierenden Instrumentation leben von pulsierendem Rhythmus, von terrassenförmigen Steigerungen und von ständigen Wiederholungen, die die urtümlichen, auch parodiehaften Texte wirkungsvoll unterstreichen. All das wird von Braunschweigs GMD Sriba Dinic mit deutlicher Zeichengebung und dem ausgezeichnet aufspielenden Staatsorchester hervorragend umgesetzt. Opernchor (Georg Menskes, Johanna Motter) und Domchor (Elke Lindemann, Arno Brüers) waren mit Schwung und Begeisterung klangvoll bei der Sache wie auch der sauber intonierende Kinderchor (Mike Garling). Die junge Sopranistin Gabriela Hrzenjak erfreute mit frischer, klarer Stimme, lupenreiner Intonation („Dulcissime“) und unendlichem Atem. Das Groteske des singenden „gebratenen Schwans“ machte Tenor Matthew Pena mit erstaunlich kräftigen Tönen im Falsett deutlich. Einen schwächeren Tag hatte Maximilian Krummen, der im lyrischen „Omnia sol temperat“ einfühlsam punkten konnte, aber leider bei den Schänke-Liedern stimmlich angegriffen klang.

© Leszek Januszewski

Da Chor und Orchester hinten auf der Bühne platziert sind, bleibt dem Tanzensemble auf dem vorderen Bühnenteil mit überbautem Orchestergraben genug Raum zur temporeichen Entfaltung. Gregor Zöllig stellt in Inszenierung und Choreographie dieser Musik die Zeitlosigkeit des menschlichen Zusammenlebens von heute gegenüber der Entstehungszeit der Lieder zu Beginn des zweiten Jahrtausends heraus. Zu der stark rhythmisierenden Musik findet er immer wieder neue Bilder aus einem reichen Bewegungskanon, wobei Einzelne zu Gruppen werden und sich auch wieder lösen. Dem hervorragenden Tanzensemble fordert er immer wieder Höchstleistungen ab, die voll und ganz erfüllt werden. Wohl um allen Tänzern und Tänzerinnen eine höchst verdiente kleine Pause zu gönnen, lässt er nach dem ersten Teil das internationale Tanzensemble an die Rampe treten und sich wortreich in der jeweiligen Muttersprache vorstellen, ein köstliches Durcheinander. Ein Höhepunkt der Choreographie war die ästhetisch ansprechende Entkleidungs- und Vereinigungsszene eines Paares in diffusem Licht (Tobias Krauß). Ein im Programmheft „Steinschauer“ genannter großer Meteorit (?), der sich langsam als äußerliche Bedrohung passend zu den Texten des Mittelteiles senkte und später wieder hob, blieb der beherrschende Blickfang der Bühne (Jasna Bosnjak). Passend dazu entwickelten sich auch die Kostüme (Imme Kachel) allmählich von Einheitshell über vereinzelte rote Hemden oder Hosenröcke bis zu totalem Rot im dritten Teil; zum Schlusschor war der Kreis wieder in Hell geschlossen.

Das Premierenpublikum im endlich einmal wieder voll besetzten Haus bedankte sich mit lang anhaltendem, tosendem Applaus und standing ovations bei allen Mitwirkenden, also bei den ca. 180 Aktiven auf der Bühne und dem Regieteam.

Marion Eckels,  5. November 2023


Carmina burana
Carl Orff

Staatstheater Braunschweig

Besuchte Premiere am 4. November 2023

Choreografie: Gregor Zöllig
Musikalische Leitung: Sraba Dinic
Staatsorchester Braunschweig
Chor des Staatstheaters Braunschweig, Der Braunschweiger Domchor, Kinderchor des Staatstheaters

Weitere Vorstellungen: 9.,12.,17.,24. November und 3.,8.,13.,29.,31. Dezember (2x) 2023