Besuchte Vorstellung am 1. November 2020
Premiere am 10. Oktober 2020
Mit Corona-Einschränkungen
Eigentlich sollte Beethovens einzige Oper im Mai 2020 Premiere haben; Corona ließ das nicht zu. Das Bestreben der Intendantin und Regisseurin Dagmar Schlingmann war darauf gerichtet, „Fidelio“ auf jeden Fall noch im Beethoven-Jubiläumsjahr stattfinden zu lassen, was angesichts der Abstandsregeln in diesen Zeiten schwer zu verwirklichen war, weil nicht das gesamte Orchester in den Graben passte und die vielen Choristen nicht auf die Bühne durften. Und alle täglich zu testen, wie es andernorts geschah, war im Etat des Hauses nicht drin. Da mussten also Ersatzlösungen her: Zum wohl schwierigsten Problem, der orchestralen Verwirklichung, hatte der Bibliothekar des Staatstheaters Thomas Krümpelmann die zündende Idee: Er fand eine „Fidelio“-Harmoniemusik von Wenzel Sedlák (1776-1851), die Beethoven selbst abgesegnet hatte, um – wie es damals durchaus üblich war – seine Oper in weiteren Kreisen bekannt zu machen. Da diese Harmoniemusik für lediglich doppelt besetzte Oboen, Klarinetten, Hörner und Fagotte konzipiert war und außerdem nur etwa 50 Prozent der Oper enthielt, nahm man noch die Harmoniemusik vom Hof des opernverliebten Fürsten zu Hohenlohe-Oehringen hinzu, so dass das Ensemble mit Flöten, Trompeten, Pauken und Posaune ergänzt wurde. Aus beiden Fassungen wurde eine neue Harmoniemusik erstellt, wobei wesentlich war, die Teile der Instrumentenstimmen, die den Gesang übertragen bekommen hatten, wieder zu tilgen, da die Oper ja wieder mit Sängern aufgeführt werden sollte. Schließlich wurde das Bass-Fundament des Ensembles durch einen Kontrabass erweitert.
Susanne Serfling
Auch auf der Bühne musste es Corona-Zugeständnisse geben: So wurde Einiges gestrichen, um auf eine pausenlose Fassung zu kommen. Die zuvor aufgenommenen Chorstellen wurden eingespielt, die Dialoge entfielen weitgehend, und das große Finale, hier ohne den gütigen Minister, war stark gekürzt worden. Natürlich entfiel nicht die immer wieder hoffnungsfroh stimmende idealistische Utopie der Befreiung von Willkür und Gewaltherrschaft. Zum besseren Verständnis der Handlung sprach die Schauspielerin Silke Buchholz Teile des Dialogs und passende Texte von Ernst Bloch, Walter Jens, Bertha von Suttner u.v.a. mit stimmiger Prägnanz.
Am letzten Tag vor dem erneuten Lockdown konnten wir in einer Nachmittagsvorstellung die „Corona-Fassung“ von Beethovens Meisterwerk erleben.
Sabine Mader hatte eine halbrunde weiße Gefängnis-Mauer auf die Bühne stellen lassen, in der Zimmer derjenigen eingelassen waren, die auch dort lebten, also Rocco, Marzelline, Jaquino und Leonore. Außerdem hing ein großer würfelförmiger Kasten wie ein Container vom Schnürboden herab, der – wie sich später herausstellte – das Verlies Florestans war. Die Kostüme von Inge Medert waren nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern eher zeitlos modern. Der Regie von Dagmar Schlingmann waren auch mit Hilfe von Video-Szenen (Alexandra Holtsch) eindrucksvolle Szenen gelungen, wenn man von allzu unruhigen Video-Verdopplungen bei „Mir ist so wunderbar“ einmal absieht. Besonders der Gefangenenchor ging unter die Haut, als ununterbrochen bekannte Namen von Verfolgten und Unterdrückten aufgezählt wurden und eine Fülle von Augenpaaren von der weißen Mauer aus ins Publikum blickte.
Valentin Anikin/Susanne Serfling/Rainer Mesecke
Von der musikalischen Seite ist weitgehend positiv zu berichten: Braunschweigs GMD Srba Dinić leitete mit gewohnt präziser Zeichengebung das ausgezeichnete Bläserensemble, wenn es auch einige Holprigkeiten gab, bei der Ouvertüre und im Zusammenklang mit den eingespielten Chorstellen, vor allem im Finale. Die Instrumentalisten im Graben, die ja alle solistisch und jeweils ohne richtige Pausen durchspielen mussten, hatten durchweg so hohes Niveau, dass kaum mehr auffiel, dass die Streicher fehlten.
Vom Sängerensemble ist zuerst Susanne Serfling als eine Leonore zu nennen, die sich in glaubhafter Darstellung nicht nur für ihren Mann, sondern für alle Unterdrückten einsetzte („Wer du auch seist, ich will dich retten!“). Sie führte ihren durchschlagskräftigen, abgerundeten Sopran intonationssicher durch alle Lagen und hatte mit den Höhen der Partie keinerlei Probleme. Das war leider beim Florestan von Marc Horus ganz anders: Sein Tenor klang nur in den lyrischen Passagen einigermaßen ruhig; wenn es dramatisch wurde, traf er die jeweilige Tonhöhe nicht, sondern ging meistens mit starkem Tremolo darüber hinaus.
Susanne Serfling/Marc Horus
Don Pizarro war gestalterisch bei Valentin Anikin aus dem Braunschweiger Ensemble gut aufgehoben. Die für einen Bass wie ihn hohen Tessitura seiner Rolle machte ihm nicht zu schaffen. An das mulmige Timbre und die merkwürdigen.Vokalverfärbungen des russischen Sängers kann ich mich allerdings nicht gewöhnen.
Der markante und zugleich sympathische Bass von Rainer Mesecke passte bestens zum Rocco; er hatte zeitweise jedoch Probleme, sich gegenüber den Bläsern aus dem Graben durchzusetzen. Wie immer gefiel als Marzelline Ekaterina Kudryavtseva durch reizende Darstellung und ihren intonationsrein und schön aufblühend geführten Sopran. Joska Lehtinen gab den Jaquino mit klarem, sauberem Tenor.
Der Chor aus dem Off in der Einstudierung von Johanna Motter und Georg Menskes hörte sich klangvoll und ausgewogen an; stimmschön sang Sunguk Choi den ersten Gefangenen.
Im umständehalber kläglich besetzten Haus gab es starken Applaus für alle Beteiligten; sicher war man froh, überhaupt Oper erleben zu dürfen – frei nach dem Motto: Lieber das als gar nichts!
Fotos: © Björn Hickmann / Stage Picture
Gerhard Eckels 1. November 2020
Weitere Vorstellungen: 5.,17.,26. 12. 2020