Premiere am 19. Mai 2018
Turbulent und meist witzig
Ivi Karnezi/Matthias Stier/Chor
Bereits in jungen Jahren (zwischen 1928 und 1936) erzielte Dmitri Schostakowitsch vor allem im Musiktheater große Erfolge: So komponierte er neben den beiden Opern „Lady Macbeth von Mzensk“ und „Die Nase“ drei abendfüllende Ballette sowie eine ganze Reihe von Schauspiel- und Filmmusiken. Das änderte sich 1936, als zwei wahrscheinlich von Stalin veranlasste, vernichtende Kritiken der „Lady Macbeth“ und des Balletts „Der klare Bach“ erschienen. Diese Artikel verfolgten die Absicht, den berühmten Komponisten zu ästhetischem Gehorsam und Konformismus zu zwingen. Das hatte insofern Erfolg, als sich Schostakowitsch in der Folgezeit auf textfreie Sinfonik und Kammermusik beschränkte, eine Musik, deren Inhalt von anderen nicht so leicht zu kontrollieren war. Nach Stalins Tod gab es in dem so genannten Chruschtschow-Tauwetter Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre größere Veränderungen auch im Kulturbereich. Jetzt entstand Schostakowitschs satirische Operette „Moskau, Tscherjomuschki“, die 1959 im Moskauer Operettentheater uraufgeführt wurde. Sie geht zurück auf ein Libretto der hierzulande kaum bekannten Humoristen Wladimir Mass und Michail Tscherwinski, die ein zeitpolitisches Thema aufgriffen: Es geht um die Kampagne Chruschtschows, die überbevölkerten und maroden älteren Stadtteile Moskaus und anderer Großstädte abzureißen und die Bewohner in neue, hastig hochgezogene Plattenbauten am Stadtrand umzusiedeln. Tscherjomuschki ist eine solche damals entstandene Hochhaussiedlung im südlichen Moskau. Die Geschichte handelt von einer Gruppe sehr unterschiedlicher Moskowiter, die – meist kurz vor der Obdachlosigkeit stehend – sich glücklich schätzen, dort neue Wohnungen zugewiesen bekommen zu haben. Der Einzug wird jedoch durch den korrupten Beamten Drebednjow und seinen Kumpanen Barabaschkin, den Hausmeister der Anlage, mutwillig behindert und verzögert. Zum positiven Schluss überwinden die Einwohner deren Machenschaften mit Hilfe eines märchenhaften Zaubergartens, in dem eine Wolke alle zum Aussprechen der Wahrheit zwingt, der die Paare zusammenführt und die Bewohner von Tscherjomuschki schließlich in ihre neuen Wohnungen gelangen lässt.
Jelena Bankovic/Vincenzo Neri
Die Musik der Operette, eigentlich fast schon ein Musical, zeichnet sich aus durch schlichte, eingängige Melodien, vielfach im Walzer-Rhythmus und angelehnt an russische Volkslieder. Außerdem huldigt Schostakowitsch hörbar den Operetten-Größen Johann Strauß und Jacques Offenbach, Franz Lehár und Emmerich Kálmán. Das Stück enthält auch parodistische Zitate russischer Komponisten wie Michael Glinka („Ein Leben für den Zaren“), Alexander Borodin („Polowetzer Tänze“) oder Peter Tschaikowski („Schwanensee“ und „Dornröschen“).
In Braunschweig hatte sich das Regieteam für ein äußerlich karges, mit vier verschiebbaren, quadermäßigen Bauelementen in Fertigbauweise versehenes Bühnenbild (Stephan von Wedel) entschlossen, das durch variantenreiche Videos von Vincent Stefan angereichert wurden. Unverständlich war allerdings, dass sich die anfangs auf sonst leerer Bühne stehende schäbige Bruchbuden-Sauna (was sollte die überhaupt?) gedanklich in einen Funktionärs-Lada verwandelte, in dem die Akteure von Moskaus Zentrum in den genannten Vorort fuhren. Zum Text, der die durchfahrenen Straßen und markante Moskauer Stadtteile beschrieb, sah man im Video nur einsame Felder und Wälder. Moskaus Bürger erhielten Alltagsklamotten, bis sie in einer absurden unverständlichen Traumpassage und zum Finale im Zaubergarten in detailverliebter historischer Kleidung auftraten (Kostüme: Valentin Köhler). Allzu banal war die deutsche Übersetzung von Ulrike Patow, der es wohl vor allem darum ging, passende Reime nach dem Motto „Reim dich oder ich fress dich!“ zu finden. Dagegen gefiel durchgehend, wie Regisseur Neco Çelik das überaus spielfreudige Ensemble, drei Tanzpaare eines Braunschweiger Tanzclubs und den ebenfalls lebhaft agierenden Chor mit vielen, meist witzigen Ideen im Einzelnen durch die turbulente Handlung führte.
Eugene Villanueva/Chor
Musikalisch konnte man erneut sehr gute Leistungen aller Beteiligten erleben: Die Gesamtleitung lag in Händen des jungen 1. Kapellmeisters Iván López Reynoso, der mit energischem und zugleich präzisem Dirigat alles im Griff hatte und mit dem frisch aufspielenden Staatsorchester stets für den nötigen Schwung sorgte, ohne die lyrischen, ja besinnlichen Passagen zu vernachlässigen.
Das Braunschweiger Ensemble verkörperte gemeinsam mit wenigen Gästen die sehr unterschiedlichen Figuren der Handlung jeweils typgerecht: Da gab es den nach längerer Maloche in einem Bergwerk nach Moskau zurückgekehrten Boris, der sich jetzt offensichtlich als Rosenverkäufer durchzuschlagen versucht und dringend eine Frau fürs Leben sucht. Vincenzo Neri versah den sympathischen Gelegenheitsarbeiter mit ausgesprochen stimmschönem Bariton und munterem Spiel. Seine Angebetete war die junge, zunächst schnippische Fremdenführerin Lidotschka, die ganz am Schluss doch zu ihm fand. Mit frischem Sopran und glaubhafter Gestaltung gab ihr Jelena Banković Gestalt. Ihr Vater, „ein älterer Moskauer“, wie es in der Inhaltsangabe hieß, war mit sicherem Bariton Andreas Mattersberger.
Matthias Stier/Vincenzo Neri
Zum Personal gehörte auch der korrupte Funktionär Drebednjow, den Michael Eder mit poltrigem Bass ausfüllte; ein theaterwirksamer Knüller war seine junge Frau Wawa, die in der überdrehten Darstellung von Carolin Löffler saukomisch war. Das musikalisch herausragende Liebespaar des Abends war der unzuverlässige, weil sich immer verspätende Funktionärschauffeur Sergeij (mit einmal mehr glanzvoll auftrumpfendem lyrischem Tenor Matthias Stier) und die Bauarbeiterin Ljusja (mit ausgeprägtem, wenn auch in Mittellage und Höhe nicht immer intonationsreinem Sopran Ivi Karnezi). Schließlich gab es noch das seit sechs Monaten verheiratete Paar Sascha und Mascha, das dringend eine eigene Wohnung brauchte. Hier gefielen mit jeweils kultivierter Stimmführung Maximilian Krummen und Milda Tubelytė. Noch zu erwähnen ist der Hausverwalter Barabaschkin, den Eugene Villanueva mit prägnantem Bariton gab. Dass der Chor viel zu tun hatte, ist schon erwähnt worden; nachzutragen ist, dass er dabei in der bewährten Einstudierung von Georg Menskes und Johanna Motter prächtigen und ausgewogenen Chorklang verbreitete.
Das Premierenpublikum war begeistert und spendete starken Applaus, der für das Regieteam mit einigen Buh-Rufen vermischt war.nte
Fotos: © Thomas M. Jauk
Gerhard Eckels 20. Mai 2018